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Diagnose seltener Krankheiten: Symptome erkennen und verstehen

Manche seltene Krankheit sehen Ärztinnen und Ärzte in ihrem Arbeitsleben nur bei einem einzigen Patienten. Bei einer derart geringen Anzahl von Fällen ist es nicht verwunderlich, dass Menschen mit seltenen Erkrankungen oft jahrelang weder die richtige Diagnose noch eine wirksame Therapie erhalten. Ihre Krankengeschichte ist eine lange Reise zwischen Erfolgen und Rückschlägen, Hoffnungen, Verzweiflung und Angst.

Nahaufnahme einer Hand, der eine Kanüle gelegt wird. Im Hintergrund unscharf Oberkörper und Kopf der Patientin in einem Krankenbett.

Die Odyssee beginnt sehr oft lange vor der Diagnose. Denn weil die Krankheiten selten sind, sind auch die Expert:innen und die entsprechenden Fachkliniken selten. Die Spanne, bis nach vielen Arztbesuchen die Krankheit korrekt diagnostiziert ist, misst sich meist eher in Jahren denn in Monaten – für die Betroffenen und ihre Angehörigen ein zusätzlicher Faktor der Unsicherheit und nicht selten auch psychischen Belastung.

Vieldeutige Symptome erschweren die Diagnose seltener Krankheiten

Auch machen die Symptome mancher dieser Krankheiten eine Abklärung nicht einfach. Ein Kleinkind, das eher ängstlich und zurückgezogen ist – wer kommt da auf einen Gendefekt? Aber das Fragile-X-Syndrom, das auf einem Gendefekt auf dem X-Chromosom beruht, löst genau solche Symptome aus. Die Betroffenen leiden zudem unter Lern- und Sprachstörungen sowie Aufmerksamkeitsdefiziten. Auf der Suche nach der Ursache sind erste Befunde häufig unklar oder führen in die Irre, was die Diagnosefindung weiter verzögert. Eltern berichten davon, dass es bis zu zehn Jahre gedauert hat, bis die Krankheit ihrer Kinder endlich diagnostiziert wurde. In der gesamten EU sind ungefähr 100.000 Menschen betroffen. Zugelassene Medikamente gibt es noch keine – aber einige Wirkstoffe sind in der Entwicklung.

Viele seltene Erkrankungen lösen eine ganze Kaskade von körperlichen Beschwerden, Schmerzen oder psychosomatischen Störungen aus – es sind sogenannte Multi-Systemerkrankungen, die hochkomplex sind. Die Amyloid-Polyneuropathie zum Beispiel manifestiert sich durch ein ganzes Bündel von neurologischen, kardiologischen oder gastro-intestinalen Beschwerden. Diagnose und Behandlung können nur funktionieren, wenn Spezialisten fachübergreifend zusammenarbeiten.

Und auch das gibt es: In manchen Fällen führen die Symptome einer seltenen Erkrankung zu einem falsche Befund. Eine Lungenfibrose etwa wird oft mit Asthma verwechselt – und dann viel zu spät
diagnostiziert bzw. falsch behandelt.

Was tun, wenn keine Diagnose gefunden wird?

Wenn sogar Fachärzte trotz zahlreicher Untersuchungen keine Diagnose stellen können, ist dies für Patientinnen und Patienten oft frustrierend und belastend. Gerade bei einigen seltenen Krankheiten stößt die medizinische Diagnostik an ihre Grenzen. Der Hausarzt ist oft der erste Ansprechpartner, kann jedoch nicht alle seltenen Erkrankungen kennen – es gibt schließlich rund 8.000 verschiedene. Deshalb ist es wichtig, dass Patienten bei unklaren Diagnosen gezielte Unterstützung erhalten, zum Beispiel in Kliniken, Fachzentren und Kompetenznetzwerken, in denen Spezialisten interdisziplinär zusammenarbeiten. Auch sogenannte Lotsen spielen eine wichtige Rolle: Sie helfen dabei, dass Menschen mit seltenen Leiden schneller den Weg zu einem Spezialisten finden.

Das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) ist in diesem Zusammenhang ein wichtige Informationsquelle. Es bietet auf seiner Webseite wichtige Verlinkungen und hat einen Nationalen Aktionsplan entwickelt, der die Probleme in der Versorgung benennt und den weiteren Ausbau der notwendigen Infrastruktur in den kommenden Jahren vorsieht.

Mittlerweile haben bundesweit schon 36 Kliniken eigene Zentren für die Diagnose und Therapie seltener Erkrankungen eingerichtet. Zu dieser Entwicklung hat NAMSE beigetragen. Manche Zentren sind auf bestimmte Felder wie Nervenkrankheiten spezialisiert, andere decken durch Kooperation mit anderen Klinikbereichen eine große Bandbreite medizinischer Gebiete ab. Ein Patient, der in einem solchen Zentrum auf eine Dauertherapie eingestellt wird, kann anschließend oft ambulant und wohnortnah weiterversorgt werden.

Das alles zeigt: Die Seltene Erkrankungen müssen stärker in den Fokus der medizinischen Versorgung gerückt werden. Neben NAMSE ist auch die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen, ACHSE e. V. eine wichtige Anlaufstelle, die unter dem Motto „Den Seltenen eine Stimme geben“ Betroffenen und ihren Familien Unterstützung bietet.

Was passiert, nachdem die Diagnose gestellt wurde?

Nachdem die Diagnose einer seltenen Krankheit gestellt wurde, stellt sich die Frage, wie es für den Patienten oder die Patientin weitergeht. Die Diagnosestellung ist der entscheidende erste Schritt, um die richtige Behandlung einzuleiten, zu der auch eine Psychotherapie gehören kann. Oft bietet ein sogenanntes Orphan Drug – ein Medikament speziell für seltene Krankheiten – die erste Möglichkeit, eine wirksame Therapie zu beginnen und Körperbeschwerden zu lindern. Schon rund 250 Medikamente haben eine Zulassung als Orphan Drug erhalten; und noch viel mehr sind derzeit in Entwicklung. Erkrankte können so ein Medikament jedoch in der Regel erst nach der Zulassung erhalten. Doch es gibt Ausnahmen:

Härtefallprogramme erlauben es, dass ein Hersteller ein noch nicht zugelassenes Medikament für Schwerkranke gratis zur Verfügung stellt. Dieser sogenannte „Compassionate Use“ (Anwendung aus Mitgefühl) überbrückt meist die Zeit zwischen dem Abschluss der klinischen Studien und der offiziellen Marktzulassung. werden behördlich überwacht; und die Behandlung jedes Teilnehmenden muss sorgfältig dokumentiert werden.

Ein weiterer Weg ist der individuelle Heilversuch. Hier können Ärztinnen und Ärzte im Einzelfall ein noch nicht zugelassenes Medikament einsetzen, wenn keine anderen Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Dafür muss ein Arzt mit Einverständnis des Patienten ein Unternehmen darum ersuchen, ein in Entwicklung befindliches Medikament in diesem Notfall bereitzustellen. Wissenschaftler und Management des Unternehmens müssen dann entscheiden, ob sie diesem Wunsch entsprechen können oder nicht. Dieser Weg ist zulässig, aber gesetzlich nicht näher geregelt.

Zu beachten ist, dass diese medizinischen Möglichkeiten Erkrankten nur dann etwas bringen können, wenn die richtige Diagnose vorliegt – der erste und entscheidende Schritt auf dem Weg zur Behandlung.