Pharmazeutische Lieferketten halten, aber innovative Substanz ist bedroht
Die Corona-Krise und der Krieg Russlands in der Ukraine haben den Prozess der zunehmenden internationalen Arbeitsteilung, der unter dem Schlagwort „Globalisierung“ seit rund 25 Jahren intensiv beobachtet und diskutiert wird, auf den Prüfstand gestellt.
Das gilt insbesondere für die pharmazeutische Industrie, die wie kaum ein anderer Industriezweig in Deutschland international vernetzt ist: 65% der chemischen Vorleistungen und 32% der pharmazeutischen Vorleistungen der Pharmaindustrie in Deutschland stammen aus der EU. Bei den für die Pharmaindustrie wichtigen Verpackungswaren sind es sogar 78% - die Pharmaindustrie ist Treiber der Europäischen Integration.
Anteil der EU28- und weiteren Staaten an den importierten Vorleistungen der deutschen pharmazeutischen Industrie (WZ21)
Chemieindustrie entspricht WZ 20, Pharmaindustrie entspricht WZ 21, Verpackungswaren entsprechen den Vorleistungen von WZ 17, 18, 22 und 23.
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Die komplette Studie "Resilienz pharmazeutischer Lieferketten" als PDF-Dokument zum Herunterladen
Dadurch hat sich die pharmazeutische Industrie in der Corona-Krise und jetzt auch im Ukraine-Krieg durchaus als resilient und zugleich hochinnovativ erwiesen. Dies ergibt eine im Auftrag des vfa erstellte Studie von Dr. Jasmina Kirchhoff (IW Köln), Prof. Dr. David Francas (Hochschule Heilbronn) und Manuel Fritsch (IW Consult), die die „Resilienz pharmazeutischer Lieferketten“ über die Breite der gesamten Wertschöpfungskette von chemischen Grundstoffen, pharmazeutischen Vorprodukten, Dienstleistungen, der Fertigarzneimittelproduktion bis hin zu Fill&Finish und Verpackungsmaterialien analysiert hat.
Vor allem zwei Faktoren sind eine ständige Gefahr für pharmazeutische Lieferketten: Naturkatastrophen und politische Instabilitäten/Krisen:
Die Zuspitzung konfliktärer Spannungen wie der Einmarsch Russlands in die Ukraine erhöhen den Handlungsdruck auf Unternehmen und Politik aufgrund der Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von russischen Rohstoffen und anderen Lieferungen. Die schon seit langem angespannten Beziehungen zwischen den USA und China, die mit der Ukraine-Krise einen neuen Tiefpunkt erreicht haben, zeigen den laufenden Systemwettbewerb zwischen dem demokratisch geprägten Westen und dem Staatskapitalismus Chinas auf und setzen stark fragmentierte globalisierte Wertschöpfungs- und Lieferketten zusätzlich unter Druck.»
Denn 68% der Produktionsstätten für Wirkstoffe, die die europäische Pharmaindustrie für ihre eigene Produktion braucht, stehen in China und Indien. Für den Bereich innovativer und biopharmazeutischer Produktion sind Europa und USA noch starke Standorte. Aber auch hier sind Zeichen von Standortverlagerungen erkennbar. Dem sollte entgegengewirkt werden.
Zur Stärkung pharmazeutischer Lieferketten stellen die Autoren eine Kombination von Maßnahmen zur Diskussion:
- Differenzierung von Versorgungsbereichen: Generische Produktion ist anders instabil als Hightech-Medizin
- Weitung des Blicks von der „Wirkstoffproduktion“ hin zur gesamten Liefer- und Wertschöpfungskette, einschl. Dienstleistungen, Verpackungsmaterialien u. Produktionstechnik
- Verbesserung der Datenlage/Transparenz: Neben dem Einsatz von Big Data und KI bei der Organisation von Lieferketten kommt dabei der Qualität der Daten von Überwachungsbehörden eine zunehmend größere Bedeutung zu
- Aufbau von Reserven „versorgungsrelevanter Wirkstoffe“: Dabei ist die klare und enge Definition solcher Wirkstoffe essenziell, um kostenintensive und zugleich ineffiziente Überkapazitäten zu vermeiden
- Erhalt/Ausbau innovativer Produktion am Standort D/Europa ist sinnvoller als „Reshoring“ abgewandater Produktionsstätten.
Die Corona-Krise stellte und stellt nicht nur eine historisch einmalige Bedrohung für die Gesundheit, Gesellschaft und Wirtschaft weltweit dar. Sie hat auch einen historisch einmaligen Innovationsschub ausgelöst. Es gilt, diesen Innovationsschub politisch zu unterstützen und im Sinne „technologischer Souveränität“ nachhaltig zu sichern.