So verändert Corona die Pharmaindustrie
In der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, wie schnell es vom Start eines Forschungsprojekts bis zur Zulassung eines Impfstoffs gehen kann, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen. War das ein einmaliger Kraftakt oder der Beginn einer neuen Ära?
Wie der Corona-Turbo funktioniert
Es dauert zehn bis 15 Jahre, bis ein neuer Impfstoff oder ein neues Medikament eine Zulassung erhält. Wenn alles, aber auch wirklich alles, glatt läuft können es auch mal fünf bis acht Jahre sein. Das liegt an den hochkomplexen Forschungs- und Entwicklungsprozessen, die hunderte von Einzelschritten sowie drei aufwändige klinische Testreihen erfordern. Und am Zulassungsverfahren, das in der Regel ein Jahr, manchmal aber auch länger dauert.
Corona hat diese Gewissheiten außer Kraft gesetzt: Es gelang in weniger als einem Jahr, mehrere wirksame und sichere Impfstoffe zu entwickeln - und zwar inklusive Einhaltung aller strengen Zulassungsanforderungen.
Das Rekordtempo war möglich, weil die Bedingungen optimal waren: Es lagen schon Erkenntnisse aus der jahrelangen Vorarbeit bei Impfstoffentwicklungen gegen SARS und MERS vor, neue Grundlagentechnologien (mRNA) waren einsatzbereit und die rigorose Priorisierung der Impfstoffprojekte bei den Firmen und den Zulassungsbehörden, sorgte für Rekordzeiten in der Bearbeitung.
Das lässt sich so nicht beliebig und für alle Forschungsgebiete wiederholen. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass sich der Zeitraum für die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen von nun an immer so drastisch verkürzen lässt.
Es gibt aber Effizienzreserven im Entwicklungsprozess. Das hat Corona gezeigt. In Zukunft lässt sich durch die Nutzung von digitalen Tools zur Gewinnung von Studienteilnehmern, zur Echtzeit-Erfassung und -übermittlung von Studiendaten und zur Überprüfung der Qualität der Studiendaten Zeit gewinnen. Der Staat kann einen zusätzlichen Turbo starten und für einheitlichere Bewertungsprozesse und eine bessere Personalausstattung bei den Zulassungsbehörden sorgen. So können Genehmigungen für klinische Studien auch in Zukunft schneller erteilt werden.
Der Staat wird kein dauerhafter Gast in der Pharmaindustrie
Die Staaten haben durch Großbestellungen verlässliche Rahmenbedingungen geschaffen und zur schnellen Ausweitung der Produktion Zuschüsse gewährt. Das war dem Notstand einer Pandemie geschuldet. Im Normalfall braucht die Pharmaindustrie aber kein Staatsgeld und kann sämtliche Schritte ihrer Wertschöpfungskette - einschließlich der Forschung - selbst stemmen. Aber der Staat kann etwas anderes tun: Damit Start-up-Firmen leichter an Risikokapital kommen, brauchen sie die notwendigen steuerlichen Voraussetzungen. Und wenn der Blick dabei in Richtung der Weltspitze gehen soll, sind die USA der Maßstab.
Einmal und bald wieder: Spitzentechnologie zur Marktreife gebracht
Die beiden Biotech-Unternehmen Curevac und BioNTech sind derzeit in aller Munde. Beide setzen auf die neuartige mRNA-Technologie, bei der Deutschland weltweit zu den Innovationsführern gehört. Diese hat ein Potenzial, das weit über Impfstoffe gegen Infektionskrankheiten hinausgeht und z.B. auch gegen Krebs und Autoimmunerkrankungen eingesetzt werden könnte. Dass eine solche Plattformtechnologie in Deutschland entwickelt und zur Marktreife gebracht wird, ist keineswegs selbstverständlich. Der „mp3-Komplex“ der heimischen Wirtschaft - hier entwickelt und andernorts monetarisiert - könnte also endlich überwunden sein! Das geht nur, wenn Deutschland frühzeitig Spitzenpositionen im globalen Wettbewerb um Schlüsseltechnologien, wie die mRNA-Impfstoffe, besetzt.
Impfen ist zurück
Das Thema Impfen wurde lange Zeit eher stiefmütterlich von der Öffentlichkeit behandelt. Innovative Krebstherapien standen meist im Mittelpunkt. Das Corona-Virus hat das geändert. Natürlich wird das Impfen nicht andere wichtige Pharmatrends verdrängen: In der Onkologie etwa monoklonale Antikörper, personalisierte Therapien bis hin zu CAR-T Zelltherapien oder künftig den Einsatz der CRISPR/Cas-Genschere in der Medizin. Das Impfen wird noch nicht einmal bei der Corona-Bekämpfung die Bedeutung der Arzneimittel außer Kraft setzen: Denn was soll die Medizin mit Ungeimpften und Impfverweigerern machen? Aber Vakzine stehen wieder im Mittelpunkt des medizinischen Interesses. Zumal mit der Idee des „therapeutischen Impfens“ - die Mobilisierung des Immunsystems gegen Nicht-Infektionskrankheiten - ein neues Maß an individualisierter Medizin erreichbar ist.
Patente und Kooperationen. Nicht oder!
Derzeit fordern manche, die Pharmabranche solle ihre Covid-Patente freigeben, um die Versorgung mit Impfstoffen zu beschleunigen. Dabei hat sich das Patentsystem in der Corona-Pandemie von seiner allerbesten Seite gezeigt. Impfstoffe wurden in Rekordzeit entwickelt und werden zu moderaten Preisen angeboten. Dazu haben private Firmen erhebliche eigene Mittel investiert. Und sie haben auch eigenes Risiko an der zu Grunde liegenden Technologie gearbeitet: Zehn Jahre und länger! Deshalb ist es auch richtig, dass sie die Patente halten. Aus dieser abgesicherten Position teilen Hersteller aktuell ihr Wissen mit zahlreichen industriellen Partnern, damit die Produktion wachsen kann. Anders gesagt: Die Patentinhaber schließen industrielle Kooperationen, um den immensen medizinischen Bedarf zu decken.
Manchmal geht die Zeitmaschine an
Corona hat der Pharmaindustrie in der Impfstoffentwicklung alles abverlangt. Diese Kraftanstrengung lässt sich nicht einfach so zum „neuen Normal“ machen. Sie hat aber wie eine Zeitmaschine sichtbar gemacht, welche Potentiale in der Branche stecken. Und wer das einmal gesehen hat, vergisst es nicht.