Arzneimittelengpässe – Fünf-Punkte-Plan
Krisenresiliente und nachhaltige Lieferketten in der Arzneimittelproduktion und -versorgung sind keine Selbstverständlichkeit. Ihre Sicherstellung ist eine stete Herausforderung für die Pharmaindustrie am Standort Deutschland. Aktuell sichtbar gewordene Versorgungsprobleme sind aber weder neu, noch sind sie überraschend. Schon lange wird davor gewarnt, dass beispielsweise Antibiotika oder Schmerzmittel in der Versorgung fehlen könnten. Überraschend ist eher, dass trotz vielfältiger Warnungen so lange nichts passiert ist, um Arzneimittelengpässen vorzubeugen.
Aktuelle Situation
Die pharmazeutische Industrie in Deutschland steht in einem immer größer werdenden internationalen Wettbewerb. Deutschland gilt an sich als starker und erfolgreicher Industriestandort; allerdings haben sich die Investitionsbedingungen gerade in einer Zeit – zumindest teilweise – verschlechtert, in der die Notwendigkeit von Investitionen zur Sicherung des zukünftigen industriebasierten Wohlstands deutlich gestiegen ist.(1)
Gleichzeitig hat der deutsche Gesetzgeber in den vergangenen Jahren das Instrumentarium zur “Hebung von Wirtschaftlichkeitsreserven” in der Arzneimittelversorgung weiter ausgebaut. Ziel dieser Regulierung war vorrangig nicht die Sicherstellung der Arzneimittelversorgung, sondern die sukzessive Begrenzung von Arzneimittelausgaben zugunsten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Die Hauptlast der (auch ökonomischen) Sicherstellung der Arzneimittelversorgung lag und liegt bislang bei den verordnenden Ärzten und der pharmazeutischen Industrie.
vfa-Podcast #MacroScope zu Lieferengpässen bei Medikamenten
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Die Marktbedingungen am Standort Deutschland für die innovative Versorgung und die Versorgung mit Generika haben mithin nicht nur aktuellen, sondern auch strategischen Einfluss auf die Zukunft der Arzneimittelversorgung sowie die Innovationsfähigkeit der produzierenden Pharma-Unternehmen in Deutschland.
Aktuell stellen zusätzlich die Corona-Krise und der Ukraine-Krieg den Prozess der zunehmenden internationalen Arbeitsteilung, der unter dem Schlagwort „Globalisierung“ seit rund 25 Jahren intensiv beobachtet und diskutiert wird, auf den Prüfstand.(2)
Diese Krisen haben viele Unternehmen dazu gebracht, über bestehende Lieferketten nachzudenken, diese digital ge-stützt zu verändern und stärker zu diversifizieren. Die Auflösung von dabei entstandenen Lieferstaus erfolgt dabei nicht sofort, sondern gelingt nur Schritt für Schritt.(3)
Fünf-Punkte-Plan
1. Ein Frühwarnsystem etablieren
Für die Sicherstellung pharmazeutischer Liefer-ketten ist nicht nur die “letzte Strecke” der Arzneimittelversorgung (vom Großhandel über die Apotheke zu den Patient:innen), sondern vielmehr ein störungsfreier Produktionsprozess, also einschließlich der Herstellung und Beschaffung von Vorprodukten, Hilfsstoffen, Verpackungsmaterialien, die Abfüllung und Verpackung von Fertigarzneimitteln sowie schließlich die Organisation der geeigneten globalen, regionalen und lokalen Logistik notwendig.
Dabei sind sowohl Lieferwege, Liefermengen als auch “technologische Monopole” von hoher Bedeutung, wobei die notwendige technische Unterstützung, z.B. durch den Spezialmaschinenbau und Laborausrüster, zu berücksichtigen ist. Zur besseren Planung und Überwachung dieser Lieferkettenabschnitte sind geeignete Diagnostikinstrumente zu entwickeln. Dabei kommt der künstlichen Intelligenz zur Analyse, Unterstützung und Weiterentwicklung komplexer Lieferketten, wie sie die Arzneimittelproduktion erfordert, eine wachsende Bedeutung zu.(4)
Es empfiehlt sich dabei, auf im EU-Rahmen aufgebaute Infrastruktur und Kooperationsprojekte aufzusetzen, wie sie zur Umsetzung der EU-Arzneimittelfälschungsrichtlinie im securPharm-Projekt bereits vorhanden sind.(5)
Die hierbei erhobenen Daten eignen sich auch für die Früherkennung von Versorgungsproblemen. Für die hier angedachte Erweiterung des Nutzungsraums von securPharm-Daten besteht aktuell leider zwischen den Marktbeteiligten sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene und zwischen der EU-Kommission sowie den Mitgliedsstaaten noch keine Einigkeit. Sie sollte durch proaktive Moderation (z.B. im Rahmen von HERA(6)
) herbeigeführt werden.
2.Stresstest für Lieferketten
Unternehmen aber auch Länder wie die USA unterziehen ihre Lieferketten systematischen Stresstests, um besonders anfällige Produkte und Lieferketten zu identifizieren.(7)
Auch die EU hat im Rahmen der Erstellung ihrer Industriestrategie internationale Lieferketten und strategische Abhängigkeiten von ausgewählten Industriebereichen analysiert.(8)
Auf nationaler Ebene ist der Beirat Lieferengpässe beim BfArM mit dem kontinuierlichen Monitoring von Lieferengpässen betraut, jedoch ohne Kompetenz und Ressourcen für eine grundlegende Analyse von Schwächen in industriellen Produktions- und Lieferketten.
Perspektivisch ist es geboten, die Liefer- und Produktionsketten der pharmazeutischen Industrie wie auch der Arzneimittelversorgung im Rahmen von Stresstests auf ihre Leistungsfähigkeit und Krisenanfälligkeit zu überprüfen, um damit mögliche Handlungs- und Förderbedarfe aufzuzeigen. Dabei wäre das „time-to-shortage“-Modell, wie es von Experten kürzlich vorgeschlagen wurde, ein geeignetes Instrument.(9)
3. Mit Diversifizierung strategische Reserve schaffen
Auf die sich dynamisch verändernde Verfügbarkeit von Arzneimitteln in der Regelversorgung, und zwar sowohl mit Generika als auch mit innovativen Therapieoptionen, kann auf der einen Seite durch ein deutlich verbessertes Marktumfeld im deutschen Gesundheitswesen reagiert werden.(10)
Auf der anderen Seite könnte für Krisenfälle ein Mechanismus zur Bereitstellung von Reserveproduktion etabliert werden, der jedoch nicht durch die GKV, sondern vielmehr auf dem Wege der “innovativen Beschaffung”, analog zu den Pandemiebereitschaftsverträgen,(11)
durch die Bundesregierung finanziert werden könnte. Voraussetzung dazu ist jedoch eine klare, eingrenzende Definition von versorgungsrelevanten Wirkstoffen als auch der für die Arzneimittelproduktion kritischen Vorprodukte, Hilfs- und Verpackungsmittel. Mit Blick auf die Kosten für die Bereitstellung von Reserveproduktionskapazitäten(12)
ist zudem an eine europäische Koordination zu denken, da der Aufbau einer nationalen Produktion für alle versorgungsrelevanten Wirkstoffe nicht erfolgversprechend ist.
4. Innovationskraft am Standort halten und ausbauen
Die Vorstellung, dass einige Generika (aktuell Kinderarzneimittel) in Krisenzeiten nur etwas besser erstattet werden müssen, um dadurch die Arzneimittelversorgung in der Breite und dauerhaft zu sichern, ignoriert die Anforderungen an eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung. Arzneimittelengpässe werden nur dauerhaft vermieden, wenn die Dynamik des Innovationskreislaufs(13)
in der Arzneimittelentwicklung besser als bisher genutzt wird. Denn: Was bei der Neuentwicklung und Produktion von innovativen Arzneimitteln und Therapien fehlt, wird nie in der Regelversorgung mit Generika ankommen. Die Corona-Krise hat so deutlich wie sonst kaum ein anderes Ereignis in der jüngeren Vergangenheit gezeigt, dass ein exzellenter Innovationsstandort einer der wichtigsten Faktoren für die Bewältigung großer Gesundheitsrisiken ist. Mit dieser Innovationskraft, die neben der Impf- und Wirkstoffentwicklung auch ein funktionierendes Produktionsnetzwerk, schnelle Genehmigungsverfahren, global vernetzte Logistik und innovativen Spezialmaschinenbau einschließt, wird die Gesundheitsversorgung in Deutschland mit innovativen Therapien und in der Folge auch ausreichend Generika nachhaltig, dauerhaft und auf hohem Niveau sichergestellt werden können.
Es ist daher von zentraler Bedeutung, bestehende Produktionsbetriebe der Pharmaindustrie durch die Verbesserung von Rahmenbedingungen am Standort Deutschland (Digitalisierung, Sicherstellung der Energieversorgung) zu halten und zu erweitern. Mit dem technischen Know-how auf der Höhe der Zeit und wettbewerbsfähigen Produktionsnetzwerken können pharmazeutische Hersteller dann in Krisen flexibel auf Arzneimittelengpässe reagieren.
5. Für technologische Souveränität sorgen
Mit Blick auf die Sicherstellung der Arzneimittelproduktion für die Gesundheitsversorgung in Deutschland ist ein neues Netzwerk-Denken notwendig. So produziert die pharmazeutische Industrie nicht nur für den deutschen Gesundheitsmarkt, sondern sichert über Exporte auch die Gesundheitsversorgung in der EU und global ab.(14)
Umgekehrt wird die Gesundheitsversorgung in Deutschland durch ein europäisches und globales Netzwerk von Produktionsstandorten gewährleistet. Diese Arbeitsteilung im europäischen Binnenmarkt gilt es mit deutschem Know-how auch strategisch durch eine innovationsorientierte Handels- und Standortpolitik (Garantie des Patentschutzes/geistigen Eigentums, Verbesserung der Bedingungen für Venture Capital, Erhöhung des Schutzes von Cyberangriffen und Weiterentwicklung von Innovationsclustern) zu stärken.
Gleichzeitig muss das am Standort Deutschland vorhandene Know-how bei Entwicklung und Produktion innovativer Therapien vorangebracht werden.(15)
Das ist weniger eine Herausforderung allein für die Handelspolitik, sondern für eine strategische Technologiepolitik, die stärker als bisher internationalen Risiken Rechnung trägt und zugleich die Möglichkeiten von Transformation und Wertschöpfung zusammendenkt.
Quellen:
(1) Vgl. IW Köln, IW-Trends 3/2021, Standort Deutschland nach der Großen Koalition, S 122 f., online verfügbar.
(2) Vgl. McKinsey Global Institute: Risk, resilience, and rebalancing in global value chains, August 2020: Risk, resilience, and rebalancing in global value chains | McKinsey.
(3) Vgl. #MacroScopePharma 01/23 „Gestörte Lieferketten:
Normalisierung absehbar – China bleibt ein Risiko“: Normalisierung der Lieferketten absehbar | vfa.
(4) Als Beispiel für den Apothekenbereich: KI-basierte Bestandsplanung für Apotheken (fraunhofer.de)
(5) Vgl. Startseite | securPharm e. V. - Arzneimittel sichern – Patienten schützen | securPharm e. V. .
(6) Vgl. Health Emergency Preparedness and Response Authority (europa.eu).
(7) Vgl. z.B. den aktuellen Stresstest der Biden-Harris-Administration: 100-day-supply-chain-review-report.pdf (whitehouse.gov) sowie Public Health Supply Chain and Industrial Base One-Year Report (hhs.gov)
(8) Vgl. die erste „Tiefenanalyse“ der EU-Kommission aus dem Jahr 2021, dem 2022 eine zweite „Tiefenanalyse folgte: In-depth reviews of strategic areas for Europe’s interests (europa.eu).
(9) Vgl. Francas, David/Kirchhoff, Jasmina/Fritsch, Manuel: Resilienz pharmazeutischer Lieferketten. Studie im Auftrag des vfa, Berlin 2022, S. 48-49: Pharmazeutische Lieferketten unter Druck | vfa.
(10) Vgl. SVR Gutachten 2023: Resilienz im Gesundheitswesen. Wege zur Bewältigung künftiger Krisen, S. 389ff. - Gesamtgutachten_ePDF_Final.pdf (svr-gesundheit.de)
(11) Vgl. Kabinett beschließt Verträge für Impfstoffversorgung im Pandemiefall (bundesgesundheitsministerium.de)
(12) Roland-Berger (im Auftrag von ProGenerika) schätzte 2018 die Kosten des Neuaufbaus bzw. der Rückverlagerung allein einer (!) lokalen Antibiotikawirkstoffproduktion auf 78 Mio. €: Antibiotikastudie 2018 – Wege zur Produktion von Antibiotikawirkstoffen in Deutschland (progenerika.de)
(13) Vgl. Arzneimittel-Atlas 2018, Fokusthema Innovationszyklus: Im Fokus > Fokusthema Innovationszyklen (arzneimittel-atlas.de).
(14) Vgl. Darum sind Exporte für die deutsche Pharma-Industrie so wichtig | vfa .
(15) Hilfreich sind Überlegungen zu einer „Nationalen Strategie Gen-/Zelltherapien“: Forschung - Berlin - Bundesmittel für Gen- und Zelltherapie-Zentrum bewilligt - Wissen - SZ.de (sueddeutsche.de) und Vorschläge der EFI-Kommission 2021: EFI_Gutachten_2021_B3.pdf (e-fi.de).