Technologische Souveränität in den Fokus rücken
Deutschland und Europa erleben derzeit eine geopolitische Zeitenwende. Einseitige Handelsbeziehungen wurden im Falle der Gaslieferung Russlands als Waffe gegen die Handelspartner eingesetzt. Eine zu große Dominanz einzelner Wirtschaftsräume bei der Entwicklung von Schlüsseltechnologien kann zu ähnlich kritischen Situationen für Wirtschaft und Gesellschaft führen. Viele Unternehmen und Volkswirtschaften strukturieren deshalb Lieferketten um und stellen ihre technologischen Kapazitäten auf den Prüfstand.
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"Technologische Souveränität Pharma/Biotech – Studie zur Wettbewerbsfähigkeit und technologischen Souveränität Deutschlands im Pharmasektor" als PDF-Dokument zum Herunterladen
Die medizinische Forschung erlebt ebenfalls eine „Zeitenwende“. Die Entwicklungserfolge der Corona-Krise (Covid-19-Impfstoffe und -Therapeutika; Medikamente gegen Coronavirus – Der aktuelle Forschungsstand und Impfstoffe gegen Coronavirus – aktueller Entwicklungsstand) haben die Möglichkeiten der modernen Medizin greifbar gemacht. Innovative Impfstoffe und Medikamente gegen das Corona-Virus wurden in Deutschland entwickelt - und werden hier produziert. Grundlage dieser Erfolge ist die Fähigkeit, den Transfer von der Grundlagenforschung über die Produktion in die Anwendung organisieren zu können.
Das erfordert nicht nur krisensichere Lieferketten (Pharmazeutische Lieferketten unter Druck), sondern auch die „technologische Souveränität“ – kurz: Jederzeit über alle notwendigen technischen Kapazitäten in Forschung und Produktion verfügen zu können. Wegen der drastisch veränderten geopolitischen Lage ist die technologische Souveränität im Bereich Pharma und Biotechnologie zentral für die künftige Entwicklung des Wirtschaftsstandorts und die Versorgungssicherheit der Bevölkerung. Um diese Souveränität herzustellen, muss die Innovationsdynamik und der Transfer im Innovationsökosystem Pharma und Biotech in Deutschland deutlich gestärkt werden. Zu diesem Ergebnis kommt die „Studie zur Wettbewerbsfähigkeit und technologischen Souveränität Deutschlands im Pharmasektor“ des Fraunhofer Instituts für System- und Innovationsforschung ISI im Auftrag des vfa.
Die Expert:innen untersuchten dafür fünf Technologiefelder: die Gen-/Zelltherapien, die RNA-Technologie, die Biologika, Small Molecules und Impfstoffe. Die zentralen Ergebnisse lauten:
Im Bereich der Gen-/Zelltherapien hinkt Deutschland bei den Patentanmeldungen dem internationalen Durchschnitt deutlich hinterher.
Bei der (m)RNA-Technologie hat Deutschlands Wissenschaft einen starken Stand, jedoch spielt der Forschungsbereich innerhalb des gesamten Innovationsökosystems – anders als in China, Japan und Südkorea – eine untergeordnete Rolle.
Bei Small Molecules hat Deutschland seine internationale Spitzenstellung bei Patentanmeldungen seit 2005 kontinuierlich verloren – zusammen mit der Verlagerung von Produktion nach Indien wird damit ein erheblicher Kompetenzverlust deutlich. Das zeigt sich aktuell am stärksten bei den Lieferengpässen von Antibiotika.
Obwohl Europa und insbesondere Deutschland bei Impfstoffen hohe Kompetenz aufweisen - was sich beispielsweise sich in der Zahl wissenschaftlicher Publikationen und teilweise in Patentanmeldungen niederschlägt, weist Deutschland im Bereich der Importe externe Abhängigkeiten aus.
Biologicals: Einzig im Bereich der Biologicals und Biosimilars hat sich Deutschland eine international gute Ausgangslage erarbeitet, ist allerdings weniger gut in andere Länder vernetzt.
Die Ursachen für die Defizite sind in unterschiedlichen Gründen zu suchen: Dazu zählen eine zu niedrige Innovationsgeschwindigkeit, einerseits aufgrund komplexer bürokratischer Prozesse und fehlender Harmonisierungen in der föderalen Struktur. Besonders eklatant zeigt sich dies bei klinischen Studien.
Auch die Bündelung wichtiger Kapazitäten am Standort ist zu schwach ausgeprägt. Die geringe Konzentration in technologiespezifischen Kompetenzzentren sorgt dafür, dass die innovative Schlagkraft nicht vollständig genutzt werden kann. Bei digitalen Technologien wie KI, Software oder Machine Learning besteht zudem eine erhebliche Abhängigkeit vom Ausland. Das Risiko eines Fachkräftemangels und fehlende Daten als Forschungsgrundlage verschärft diese Situation.
Das Fazit der Expert:innen des Fraunhofer ISI drängt dementsprechend dringlich auf darauf, die Souveränität Deutschlands und Europas zu stärken - diese sei an vielen Stellen nicht gegeben: „Damit steigt auch das Risiko, in Krisenfällen unter Umständen nicht über eigene Kapazitäten und Netzwerke zu verfügen, um die bestehenden Bedarfe zu decken.“ Zwar sind nach wie vor die Potenziale für einen internationalen Spitzeninnovations- und Produktionsstandort vorhanden. Das hohe Tempo in anderen Teilen der Welt und die immer schwierigeren Rahmenbedingungen vor Ort, setzen den Pharmastandort Deutschland erheblich unter Druck.
Um das Ziel der technologischen Souveränität im Bereich Pharma und Biotech zu erreichen, empfehlen die Experten daher:
Kompetenzlücke schließen: Benötigt werden nicht nur gut ausgebildete Pharmazeuten und Mediziner, sondern auch prozess- und produktionsrelevante Kompetenzen in den Bereichen Künstliche Intelligenz, Software und Machine Learning.
Innovationprozesse beschleunigen: Das Wissenschaftssystem in Deutschland ist inhaltlich exzellent, aber zu träge. Systeminterne Evaluation und Zertifizierung von Wissen hat einen zu hohen, die Anwendung von Wissen einen zu geringen Stellenwert im deutschen Innovationsökosystem.
Transferlücke überwinden: Die Kooperation von Wissenschaft und Industrie war der Schlüssel zur Bewältigung der Corona-Krise. Diese Kooperation muss beispielgebend werden.
Strategisch vorausschauen: Mit dem Wissen von heute lassen sich Transformationspfade, aber auch geoökonomische Risiken abschätzen. Krisen lassen sich bewältigen. Deutschland braucht jedoch einen strategischen Austausch aller Stakeholder mit den dafür notwendigen Kompetenzen oder Kooperationsbeziehungen.