"Bedeutung des Morbi-RSA für eine innovative Arzneimittelversorgung"
Mit dem Jahr 2009 wurde ein neues Finanzierungssystem in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) eingeführt. Neben dem neuen Gesundheitsfonds ändert die zeitgleiche Umstellung des bisherigen Risikostrukturausgleichs (RSA) auf einen morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) die Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Krankenkassen fundamental.
Executive Summary
Ein Morbiditätsadjustierter Risikostrukturausgleich als neues Finanzsteuerungsinstrument in der GKV ist in einem wettbewerblich geprägten Gesundheitswesen zur Beseitigung von Fehlanreizen ordnungspolitisch geboten. Ob ein zwingend erforderlicher Ausgleich zwischen Verteilungs- und Versorgungsgerechtigkeit damit einhergeht, hängt von den gesetzlichen Rahmenbedingungen und den weiteren Anpassungsmaßnahmen des Bundesversicherungsamtes (BVA) ab.
Aus Sicht der forschenden Industrie muss dem Problem des Innovations-Gaps hohe Aufmerksamkeit geschenkt werden, damit die Innovationsdynamik im Gesundheitswesen nicht durch falsch gesetzte Anreize geschwächt wird. Diesbezügliche Fehlanreize sind durch geeignete Maßnahmen zu beseiti-gen. Das deutsche DRG-System könnte hier Vorbild in seiner Abbildung therapeutischer Innovationen sein. Des Weiteren muss beobachtet werden, in wie weit dieses Problem durch die Interventionen des Gesetzgebers im GKV-OrgWG und insbesondere die darin vorgenommene Änderung des § 31 Abs. 4 RSAV gelöst werden kann.
Der Vertragswettbewerb spielt bei der Versorgungsoptimierung im Allgemeinen und bei den Morbi-RSA-relevanten Krankheiten im Besonderen eine ganz zentrale Rolle. Wenn durch die Vorgaben des Gesundheitsfonds das Bemühen um eine Intensivierung des Vertragswettbewerbs nachlässt, werden die mit dem Morbi-RSA verfolgten Ziele kaum zu erreichen sein. Rabattverträge bedienen dabei nicht zwangsläufig die Versorgungsrationale des Morbi-RSA. Kooperative Zweckbündnisse zwischen Krankenkassen, Leistungserbringern und Industrie sollten forciert werden.
Ausgangslage
Bisher fand der Wettbewerb unter den Kassen faktisch in erster Linie über den kassenindividuellen Beitragssatz statt. Trotz eines in der GKV vorherrschenden Diskriminierungsverbotes setzte das bisherige System immer wieder Anreize zu einer impliziten Risikoselektion. Es lohnte sich für Krankenkassen wirtschaftlich gesunde günstige Versicherte anzulocken und kranke teure Versicherte von sich fern zu halten.
Durch die Einführung des Gesundheitsfonds mit bundesweit einheitlichem Beitragssatz fällt für die Krankenkassen der Beitragssatz als Wettbewerbsparameter zunächst weg. Laut Gesetzgeber soll dadurch der Kassenwettbewerb künftig auf die Erbringung einer effizienten und qualitativ hochwertigen Versorgung ausgerichtet werden. Voraussetzung für die Schaffung fairer und wettbewerblicher Rahmenbedingungen sei ein zielgenauerer und damit gerechterer Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen. Dadurch sollen bestehende Risikoselektionsanreize verringert werden.
Hierzu wird der seit 1994 praktizierte Risikostrukturausgleich zwischen den Krankenkassen, der im Wesentlichen durch die Ausgleichsfaktoren Alter und Geschlecht der Versicherten bestimmt war, mit dem Morbi-RSA auf ein System der „direkten Morbiditätsorientierung“ umgestellt. Ab 2009 erhalten die Krankenkassen aus dem Gesundheitsfonds für jeden Versicherten eine Grundpauschale – in Analogie zum bisherigen RSA vor allem nach Alter, Geschlecht und Erwerbsminderungsrentenstatus gestaffelt– sowie Zuschläge für Versicherte mit mindestens einer oder mehreren der 80 Morbi-RSA relevanten Krankheiten. Zur Abbildung des neuen Ausgleichsfaktors „Morbidität“ werden ambulante und stationäre Diagnosen nach ICD-10-Kodierung verwendet, wobei ein Teil der ambulanten Diagnosen durch die zugehörigen Arzneimittelverordnungen (ATC-Code) abgesichert werden müssen. Erst durch die Erfüllung dieser Aufgreifkriterien wird ein Morbiditätszuschlag ausgelöst. Die erstmalige Berechnung der Morbiditätszuschläge für 2009 erfolgt auf Basis der Morbiditätsinformationen des Jahres 2006, die mit den standardisierten Leistungsausgaben des Jahres 2007 verknüpft werden. Die an sich prospektive Berechnung der Morbiditätszuschläge erfolgt also auf retrospektiver Datenbasis.
Falls die Einnahmen aus dem Gesundheitsfonds die Ausgaben einer Krankenkasse übersteigen, besteht die Möglichkeit der Rückerstattung an die Mitglieder. Reichen die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht aus, besteht für die Krankenkassen die Möglichkeit, einen kassenindividuellen Zusatzbeitrag mit allen damit verbundenen wettbewerblichen Nachteilen zu erheben. Es ist davon auszugehen, dass eine Reihe von Krankenkassen bereits 2009 einen entsprechenden Zusatzbeitrag erheben müssen bzw. der Bundeszuschuss zur Krankenkassenfinanzierung erhöht werden muss.
Der Fokus des künftigen Finanzierungssystems der GKV richtet sich also künftig auch auf einen Ausgleich von (durchschnittlichen) Kosten ausgewählter Krankheiten. Ob die Qualität der Versorgung tatsächlich zu einem Wettbewerbsparameter wird oder es letztlich nur um Kostenkontrolle geht, muss sich zeigen.
VFA-Position
Einer der Hauptbeweggründe für die Einführung des Morbi-RSA ist der politische Wunsch nach mehr Verteilungsgerechtigkeit im System der gesetzlichen Krankenversicherung. Dies führt jedoch zwangsläufig zu der Frage, ob durch den Morbi-RSA gleichzeitig mehr Versorgungsgerechtigkeit erzielt werden kann. Es wird künftig deshalb entscheidend darauf ankommen, ob die Zuweisungen aus dem Morbi-RSA dort ankommen, wo sie versorgungspolitisch am nötigsten gebraucht werden, was auch an einer bedarfsgerechten und innovativen Arzneimittelversorgung ablesbar sein wird. Dies wird letztlich davon abhängen, ob es den Krankenkassen durch die Vorgaben des Morbi-RSA und den Bedingungen des Gesundheitsfonds gelingen wird, ein aktives Versorgungsmanagement sowohl für im Morbi-RSA berücksichtigungsfähige als auch nicht berücksichtigungsfähige Krankheiten aufzubauen. Es sollte dabei nicht zu einer Benachteiligung der nicht im Morbi-RSA berücksichtigten Krankheiten kommen.
Die pharmazeutischen Hersteller sind mit dem Morbi-RSA auf verschiedene Weise verknüpft. Zunächst durch das Aufgreifkriterium „Arzneimittel“, das zur Absicherung von ausgewählten Diagnosen in der ambulanten Behandlung eingesetzt wird. Dadurch wird eine gezielt an den Morbi-RSA-Kriterien ausgerichtete Arzneimittelversorgung für die Krankenkassen elementar, um Zuweisungen aus dem Morbi-RSA zu erhalten. Die Krankenkassen werden also in Zukunft dafür Zuweisungen erhalten, wenn die vom Bundesversicherungsamt (BVA) vorgegebenen Mindestmengen für Arzneimittel (183 DDD für chronische Diagnosen bzw. 10 DDD für akute Diagnosen) eingehalten werden. Dabei bleibt jedoch unberücksichtigt, dass die von WHO/DIMDI/WIdO festgelegten DDDs häufig nicht mit den tatsächlich verordneten Dosierungen übereinstimmen. Bei den DDD handelt es sich lt. WHO auch nur um eine Rechengröße und kein exaktes Bild der tatsächlichen Anwendung.[1]
So kommt es vor, dass die DDD eines Arzneimittels bei 10 mg, die im Mittel verordnete Tagesdosis aber nur bei 6,5 mg liegt. Hierdurch werden einige chronisch kranke Patienten durch das vorgegebene Raster fallen. Eine Quantifizierung dieses Effektes steht noch aus. Die qualitativ ausgerichtete Versorgungsrationale des Morbi-RSA wird somit ab 2009 eine bedeutende Rolle für die ambulante Arzneimittelversorgung der Krankenkassen spielen. Dies führt zwangsläufig auch zu versorgungsspezifischen Steuerungsanreizen bei Patienten und Ärzten. Gleichzeitig werden die Krankenkassen bestrebt sein, die gesamten Behandlungskosten den erhaltenen Finanzierungszuschlägen anzugleichen. Dabei wird in der aktuellen Diskussion oft vergessen, dass es sich bei den Morbiditätszuschlägen nicht um Behandlungspreise, sondern um Kostendurchschnitte handelt. Die künftige Ausrichtung der Patientenversorgung mit innovativen Arzneimitteln dürfte daher sowohl mit Chancen als auch mit Risiken verbunden sein.
Der Morbi-RSA als Chance für „Win-Win“-Situationen
Die Möglichkeit für eine Krankenkasse ein Benchmark aller Kassen für die Kosten bestimmter Krankheitszustände zu erhalten, eröffnet neue Kooperationsansätze zwischen Kassen und Industrie. Die im Rahmen des Morbi-RSA bestehende Notwendigkeit zu einem neuen Versorgungsmanagement dürfte die Schnittmenge gemeinsamer Interessen von Kassen und Industrie hinsichtlich einer gezielten Arzneimittelversorgung entscheidend vergrößern. Nutznießer einer solchen Entwicklung wären nicht nur die Patienten, sondern letztlich auch das Gesundheitssystem als Ganzes. Es gilt nun, diese Schnittmenge gemeinsam mit den Kassen zu eruieren und entsprechende kooperative Versorgungsmanagementkonzepte zu entwickeln. Wichtige Aspekte stellen dabei sowohl die Compliance-Förderung der Patienten als auch die frühzeitige Erkennung von Non-Respondern dar.
Risiken und Nebenwirkungen des Morbi-RSA
Aus Sicht des VFA birgt die Konstruktionslogik des Morbi-RSA ein systemimmanentes Problem hinsichtlich der zeitnahen Finanzierung neuer Gesundheitstechnologien. Mit der per Gesetz vorgeschriebenen Ausgestaltung des Klassifikationsmodells soll das gesetzlich vorgegebene Ziel der Vermeidung von Risikoselektionsanreizen realisiert und Manipulationsmöglichkeiten (sogenanntes „upgrading“) ausgeschlossen werden. Ähnlich dem deutschen DRG-System erfolgt eine Bildung von Kostendurchschnitten mit einer etwa 2- bis 3-jährigen Verzögerung. Die zeitverzögerte Berechnungsweise führt jedoch dazu, dass innovative Arzneimitteltherapien erst Jahre nach der Markteinführung im Morbi-RSA abgebildet und berücksichtigt werden.
Für eine qualitativ hochwertige und möglichst zeitnahe Versorgung der Versicherten mit innovativen Arzneimitteln treten Kassen scheinbar in Vorleistung. Auf der anderen Seite wird der Patentablauf eines Produktes ebenfalls erst nach 2-3 Jahren in den Zuweisungen berücksichtigt. Es gilt hier auf beiden Seiten den Blick auf das Gesamtsystem zu behalten und punktuelle Überreaktionen zu meiden. Der Morbi-RSA in Verbindung mit dem Gesundheitsfonds führt somit zu einem Innovations-Gap, der nicht nur im Arzneimittelbereich Auswirkungen haben dürfte. Im Interesse der Patienten gilt es zu verhindern, dass der medizinische Fortschritt durch den Gesundheitsfonds zunehmend ins Hintertreffen gerät. Auf Drängen der forschenden Arzneimittelindustrie hat der Gesetzgeber dieses Problem im neuen Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-OrgWG) aufgegriffen. Durch die darin beschlossene neue Fassung des § 31 Abs. 4 RSAV erhält das BVA die Möglichkeit, die Festlegungen des Morbi-RSA inkl. der Arzneimittelliste unterjährig zu aktualisieren. Ob dadurch ein verbesserter Zugang zu innovativen Arzneimitteln tatsächlich erreicht werden kann, bleibt kritisch abzuwarten. Besser wäre es, wenn innovative Therapien, ähnlich wie im DRG-System, eine unmittelbare Wirkung auf das Zuweisungssystem hätten. Dies könnte durch einen vollständigen kassenbezogenen Finanzausgleich bei Verordnung von Innovationen geschehen.
Interdependenzen zwischen Morbi-RSA und Vertragswettbewerb
Eine wesentliche Voraussetzung für Kassen wird ab 2009 die Entwicklung von kassenindividuellen Versorgungsprogrammen sein, wollen sie unter den Bedingungen von Gesundheitsfonds und Morbi-RSA am Markt bestehen. Die Krankenkassen werden künftig ihre Möglichkeiten zum Abschluss von selektiven Einzelverträgen mit Leistungserbringern zur Umsetzung der indikationsspezifischen Optimierungsstrategien im Rahmen des Morbi-RSA verstärkt nutzen. Der Morbi-RSA kann durchaus als Katalysator des Vertragswettbewerbs bezeichnet werden. Aktuell ist daher noch nicht absehbar, in welche Richtung sich der Vertragswettbewerb künftig entwickeln wird. Fest steht jedoch, dass der alleinige Abschluss eines Rabattvertrages als Steuerungsinstrument zur Begrenzung der Ausgabenentwicklung im Arzneimittelsektor im Hinblick auf den qualitativen Steuerungsanspruch des künftigen Morbi-RSA zu kurz greift. Vielmehr ist auf lange Sicht zu erwarten, dass die Krankenkassen die Kooperation mit der pharmazeutischen Industrie suchen werden, um innovative Versorgungskonzepte zur besseren und schnelleren Behandlung der Patienten – mit dem Ziel der Kostenreduktion – umzusetzen. Die forschende Industrie kann hier eine Reihe von versorgungsoptimierenden Programmen, die durchaus in anderen Ländern bereits ihre Effektivität unter Beweis gestellt haben, zurückgreifen.
Stand: 02.2009
1 WHO: “The DDD is the assumed average maintenance dose per day for a drug used for its main indication in adults. ... It should be emphasised that the defined daily dose is a unit of measurement and does not necessarily reflect the recommended or prescribed daily dose ...The DDD is nearly always a compromise based on a review of the available information including doses used in various countries when this information is available. The DDD is sometimes a dose that is rarely if ever prescribed, because it is an average of two or more commonly used dose sizes.“ www.whocc.no/atcddd/, letzter Zugriff: 02.02.2009.