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AMNOG-Nutzenbewertung: Abkopplung vom wissenschaftlichen Fortschritt vermeiden

Neue Therapien werden zunehmend zielgerichteter. Das heißt, die Gruppe von damit behandelbaren Patient:innen wird kleiner. Randomisierte kontrollierte klinische Studien (RCT) sind für diese besondere Therapiesituationen aus praktischen und ethischen Gründen nicht immer durchführbar. Die Medizin setzt dann auf andere Studienkonzepte. Die Zulassungsbehörden akzeptiert diese und arbeiten damit – die AMNOG-Nutzenbewertung in Deutschland nicht. Diese Dynamik sollte aber auch im AMNOG abbildbar sein, um die Abkopplung vom wissenschaftlichen Fortschritt zu vermeiden.

Radrennen aus der Rückansicht, ein Radfahrer fällt zurück von der Gruppe.

Forschung heißt Wandel

Die Pharmaforschung ist seit ihrem Ursprung einem ständigen Wandel unterworfen. Sie ist eng verknüpft mit den Entwicklungen in der Grundlagenforschung sowie wissenschaftlichen und technologischen Möglichkeiten der jeweiligen Zeit. So führen neu entdeckte Angriffspunkte im Krankheitsgeschehen immer wieder zu neuen Behandlungsansätzen. Seit Krankheitsmechanismen auf molekularer Ebene aufgeklärt werden können und dank des rasanten Fortschritts in der biomedizinischen Grundlagenforschung, werden die Therapien der letzten Jahre zunehmend zielgerichteter und patientenindividueller.

Die Erforschung schwerer Krankheiten, etwa von Erb-, Krebs- oder Autoimmunerkrankungen, erreichte mit der Sequenzierung des Humangenoms Anfang der 2000er ein neues Level. Seit einigen Jahren eröffnet nun eine andere Art von Arzneimitteln Behandlungsmöglichkeiten für bisher nicht oder nur unzureichend behandelbare seltene sowie schwere Krankheiten: Medikamente, deren Wirksamkeit in erster Linie davon abhängt, ob bei der behandlungsbedürftigen Person ein bestimmtes genomisches oder molekulares Merkmal anzutreffen ist oder nicht. Dies setzt an den bereits bekannten Prinzipien der personalisierten Medizin an. Ein Beispiel sind die sogenannten tumoragnostischen Therapeutika in der Onkologie: für ihre Einsetzbarkeit ist nicht das betroffene Organ und die Tumorart ausschlaggebend, sondern das Vorhandensein einer bestimmten (typischerweise selten auftretenden) dem Tumorwachstum zugrundeliegenden Genveränderung.

Hinzu kommen immer mehr neuartige Gen- und Zelltherapien, die zusammen mit den biotechnologisch bearbeiteten Gewebeprodukten zu der Gruppe der Arzneimittel für neuartige Therapien, den sogenannten ATMP zählen. Neu sind zudem mehrere noch in Erprobung befindliche mRNA-basierte Therapieansätze.

Das Gemeinsame dieser neuen Therapieansätze ist eine Entwicklung zu stets kleineren Gruppen von betroffenen und zielgenau behandelbaren Patient:innen. Diese leiden zum Beispiel an seltenen Stoffwechselerkrankungen oder onkologischen Krankheiten mit einer spezifischen, molekular definierten Eigenschaft.

Neue Herausforderungen für klinische Studien

Das Zulassungswesen stellt sich der wissenschaftlichen Entwicklung

Die Zulassungsbehörden stellen sich seit Jahren dieser Entwicklung. Ob RCT nötig und durchführbar sind oder ob alternative Studienansätze gewählt werden können, wird spezifisch für die jeweiligen Zulassungsanforderungen geprüft. Im Fokus steht dabei eine situative und einzelfallgerechte Abwägung einer zeitnahen Verfügbarkeit bei möglichst hoher Ergebnissicherheit zur Wirksamkeit und Sicherheit eines Arzneimittels. Und auch dann gilt: Nur bei einer positiven Nutzen-Risiko-Bilanz werden Arzneimittel überhaupt zugelassen.

Diese Abwägung findet unter Berücksichtigung des Schweregrades und der Seltenheit der Erkrankung, des ungedeckten medizinischen Bedarfs und damit der ethischen Aspekte statt. Auch im Rahmen der Zulassung gelten RCTs auch weiterhin als anzustrebender Standard, doch würde das starre Festhalten am RCT-Grundsatz in solchen besonderen Therapiesituationen zu Anforderungen führen, die eine Studie praktisch kaum durchführbar oder unethisch (und damit nicht genehmigungsfähig) machen. Die Folge wäre, dass der neue Therapieansatz nur stark verspätet oder überhaupt nicht die Zulassung und damit die Versorgung von Patientinnen und Patienten erreicht. Aus diesen Gründen erfolgen mittlerweile einige Zulassungen auf der Basis von nicht-randomisierten Daten. Zugleich findet hier ein wissenschaftlicher Austausch unter Einbindung von Expertinnen und Experten verschiedener Wissenschaftsbereiche zum Umgang mit solchen Studien statt.

Auch an anderen Stellen wird im Rahmen der Zulassungsanforderungen die Entwicklung neuartigen Therapieansätze für besondere Therapiesituationen gestützt. So kennt die EMA für besondere Therapiesituationen spezielle Zulassungswege. Dies ist zum einen die Möglichkeit einer beschleunigten Zulassung (Accelerated Assessment), bei der der Zulassungsantrag schneller geprüft wird. Bei einem Rolling Review-Verfahren werden die ersten Unterlagen bereits geprüft, während parallel noch die letzten klinischen Studien laufen. Wenn der medizinische Bedarf groß ist und die Beendigung der Studien zum späteren Zeitpunkt zu erwarten ist, kann zudem eine bedingte Zulassung (Conditional Approval) unter Auflagen erteilt werden.

AMNOG-Nutzenbewertung: deutliche Diskrepanzen im Umgang mit alternativen Studienansätzen

Konsequenz: keine Evidenzanerkennung – kein anerkannter Zusatznutzen – negative Auswirkungen auf die Versorgung

Die Folgen dieser Diskrepanzen sind deutlich: Ohne Anerkennung der Besonderheiten für die Studiendurchführung wird die vorgelegte Evidenz nicht anerkannt und mithin auch der therapeutische Zusatznutzen in der Regel nicht angemessen abgebildet. Bei neuartigen Therapien fehlen dann die Voraussetzungen für die Vereinbarung eines angemessenen Erstattungsbetrages haben. Dies kann sich negativ auf die Verfügbarkeit und ihren Einsatz in der Versorgung von Patienten und Patientinnen in Deutschland auswirken.

Anwendungsbegleitende Datenerhebung – keine Universallösung

Als ein Lösungsansatz gilt die seit 2020 verankerte Möglichkeit für den G-BA, eine anwendungsbegleitende Datenerhebung (AbD) für ausgewählte Arzneimittel (Orphan Drugs, Zulassungen unter außergewöhnlichen Umständen sowie bedingte Zulassungen) zu beauflagen. Sie dient der Generierung zusätzlicher Evidenz für die erneute Nutzenbewertung und basiert auf nicht-randomisierten Daten. Das heißt, dass beispielsweise mithilfe eines Registers Therapieverlaufsdaten erfasst werden, die in der täglichen Praxis bei der Behandlung mit dem betreffenden Arzneimittel dokumentiert werden (sogenannte Versorgungsdaten). Eine Universallösung für die beschriebenen Probleme ist die AbD nicht. Zwar ist sie ein erster Schritt hin zu einer besseren Nutzung und Akzeptanz von nicht-randomisierten Versorgungsdaten, dennoch kann die Forderung einer AbD nur unter ganz bestimmten und seltenen Voraussetzungen einen sinnvollen Schritt darstellen. Die Akzeptanz der gewonnenen Daten sowie die praktischen Auswirkungen dieses Instruments bleiben nach der ersten Zwischenbilanz weiterhin unklar.

Berücksichtigung der Besonderheiten von Therapiesituationen ist erforderlich