„Wir brauchen Erwartungssicherheit“
Die frühe Nutzenbewertung hat sich alles in allem bewährt und ist in wichtigen Punkten – etwa frühzeitige Beteiligung der Fachgesellschaften - nachgebessert worden. Es gibt aber, so vfa-Präsident Han Steutel im Interview, weiteren Reformbedarf: Sicherstellung der Finanzierung von Arzneimitteln in der stationären Versorgung und die europäische Harmonisierung der HTA-Verfahren.
Ärzte Zeitung: Vor zehn Jahren startete die frühe Nutzenbewertung für neue Arzneimittel. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Han Steutel: Auch nach zehn Jahren gibt es aus Sicht der betroffenen Firmen immer wieder schwer zu verstehende Entscheidungen. Trotzdem hat sich die Kombination aus medizinischer Bewertung und Preisverhandlungen bewährt. Denn Deutschland konnte in den letzten Jahren die meisten Arzneimittelinnovationen zügig Patienten verfügbar machen und zugleich die Ausgaben unter Kontrolle halten.
Was kritisiert der vfa?
Es mangelt an innerer Balance im Verfahren. Es ist ein grundsätzliches Problem, dass einer der beiden späteren Verhandlungspartner, der GKV-Spitzenverband, bereits bei der Bewertung des medizinischen Zusatznutzens ein gewichtiges Wort mitzureden hat; da kann es nur Interessenskonflikte geben.
Was wäre nun konkret zu tun?
Ganz pragmatisch brauchen wir „Erwartungssicherheit“. Das heißt: Je früher ein Hersteller weiß, was in puncto Evidenz von ihm erwartet wird und je konsequenter dies im Verfahren gültig bleibt, desto besser. Folgende Punkte sind dabei wichtig:
- Es muss zu einem frühen Zeitpunkt eine Beratungsmöglichkeit durch die Bewertungsinstanzen bestehen.
- Die vorhandene Evidenz muss bestmöglich und von Anfang an Eingang in das Verfahren finden.
- Die Bewertungsperspektive darf nicht im Verfahren geändert werden.
- Die Bewertungskriterien von Zulassung und Nutzenbewertung müssen optimal aufeinander abgestimmt sein.
Wieviel Aufwand muss ein Unternehmen für die Erstellung eines Dossiers betreiben?
Die Vorbereitung eines Dossiers erfordert etwa ein Jahr Vorlauf. Die Gesamtkosten belaufen sich im Schnitt auf rund eine Million Euro. Der Gesetzgeber war von völlig unrealistischen knapp 4000 Euro ausgegangen. Der Umfang eingereichter Dossiers variiert von einigen hundert bis einigen tausend Seiten. Deshalb sind gerade kleinere Unternehmen oft auf die Unterstützung externer Dienstleister angewiesen. Nun hat der G-BA seine Anforderungen an die Dossiers nochmals deutlich erhöht, und die Dossiers schwellen inzwischen auf bis zu 20 000 Seiten an – ohne weiteren Anhang. Wir halten das für unverhältnismäßig, zumal die zusätzlichen Daten vom IQWiG und G-BA gar nicht kommentiert werden.
Dreh und Angelpunkt der Nutzenbewertung ist die Vergleichstherapie, was ist dabei zu beachten?
Zunächst einmal ist es wichtig, dass die zweckmäßige Vergleichstherapie die Versorgungsrealität abbildet. Zuletzt hat der Gesetzgeber hier nachjustiert und die Einbeziehung der medizinischen Fachgesellschaften in die Festlegung der Vergleichstherapie beim G-BA verpflichtend gemacht. Dies war ein längst fälliger Schritt, der hoffentlich zu mehr Versorgungsnähe führt. Wichtig ist es aber auch, dass die Vorgaben des G-BA verlässlich sind und die Regeln nicht mitten im Verfahren geändert werden. Wenn die Unternehmen umfangreiche Studien planen, brauchen Sie auch Planungssicherheit.
Krankenkassen klagen darüber, dass das AMNOG die Preisdynamik nicht gebremst hat.
Steigende Preise sind zum einen Ausdruck von innovativer Leistung. Das AMNOG stellt aber sicher, dass das Ausmaß der Preisdynamik kontrolliert bleibt: Mehr als bisher kann ein neues Arzneimittel nur in dem Maße kosten, wie es erwiesen besser ist als der bisherige Therapiestandard. Wichtig ist, dass die Kosten insgesamt unter Kontrolle bleiben. Und durchschnittliche, jährliche Ausgabensteigerungen bei Arzneimitteln von 2,8 Prozent in den letzten zehn Jahren deuten auf eine gut funktionierende Kostenkontrolle hin.
Wie sieht es mit der Finanzierungssituation bei neuen Therapien aus?
In den letzten Jahren ist das AMNOG auf reine Krankenhausarzneimittel ausgedehnt worden. Diese Reform ist allerdings auf halbem Weg stecken geblieben: Denn es gibt für diese Produkte jetzt einen verhandelten Erstattungsbetrag, aber noch keine gesicherte Erstattung im stationären Sektor. Hier muss der Gesetzgeber nacharbeiten.
Sind Pay-for-Performance-Verträge die Zukunft der Erstattung?
„Pay-for-Performance“-Modelle sind keine universelle Systemalternative zum AMNOG, sondern eine wichtige Ergänzung für Spezialfälle, wie etwa neue Gentherapien für kleine Patientengruppen. Sie können helfen, Ergebnisunsicherheiten bei der Langzeitwirkung neuer Therapien zu reduzieren und das Finanzierungsrisiko besser zu verteilen. So könnte Patienten die Teilhabe am medizinischen Fortschritt sicher ermöglicht werden, ohne die wirtschaftliche Stabilität der Krankenkassen zu beeinträchtigen.
Und von der europäischen Nutzenbewertung spricht keiner mehr?
Die EU-Harmonisierung der technischen Seite der Nutzenbewertung ist das große Entwicklungsthema. Da es hier immer wieder Missverständnisse gibt: Es geht nicht darum, die Erstattung europäisch zu vereinheitlichen oder die Selbstverwaltung zu „europäisieren“. Es geht darum, dass die technische Bewertung der medizinischen Evidenz auf europäischer Ebene erfolgt. Hier liefert das Erfolgsmodell der Europäischen Zulassung die Richtschnur für die Weiterentwicklung der Nutzenbewertung.
Dieses Interview entstand in Zusammenarbeit des vfa mit der ÄrzteZeitung.