Standort Europa
Die pharmazeutische Industrie ist wie kaum ein anderer Wirtschaftszweig international vernetzt: von der arbeitsteiligen Forschung und Entwicklung über internationale Investitionsstrategien bis hin zur Produktion. Mit ihrer weltumspannenden Wertschöpfung ist die Branche ein Global Player der ersten Stunde. Deutschland als Teil der Europäischen Union verzeichnet bei pharmazeutischen Produkten einen Handelsbilanzüberschuss von etwa 60 Prozent. Von einem stärker integrierten europäischen Markt würden deshalb alle profitieren.
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Die forschende Pharmaindustrie kann eine entscheidende Rolle bei der Sicherung der künftigen Wettbewerbsfähigkeit Europas in einem veränderten globalen Standortgefüge spielen. Das hat auch die EU erkannt. Mit der Entscheidung, im Rahmen einer neu ausgerichteten Industriepolitik für Europa eine Strategie für die pharmazeutische Industrie auf den Weg zu bringen, wird die strategische Bedeutung eines dynamischen Life-Sciences-Sektor für Europas Wirtschaftswachstum deutlich.(1)
Diese Weichenstellung war überfällig. Während noch vor 30 Jahren Europa an der Spitze bahnbrechender medizinischer Innovationen lag, kommen heute fast die Hälfte aller neuen Therapien aus den USA und zunehmend auch aus China. Demgegenüber stammen nur noch 25 Prozent der neu zugelassenen Arzneimittel aus Europa.(2)
Parallel dazu ist der Anteil Europas an den weltweiten FuE-Investitionen im Life-ScienceSektor immer weiter gesunken. Bis 1990 stand Europa im weltweiten Vergleich bei den Ausgaben für pharmazeutische F&E an der Spitze. Seitdem hat der Kontinent stetig an Boden verloren. Im Jahr 1997 lag die Gesamtsumme für industrielle Pharmaforschung in den USA erstmals höher als in Europa. Zwischen 1990 und 2019 stiegen die F&E-Investitionen der Unternehmen in Europa um das 4,5-fache, in den USA hingegen um das 8-fache.(3)
Gleichzeitig ist der Anteil Europas am Pharma-Weltmarkt geschrumpft. Im Zeitraum von 2014 bis 2018 wuchsen die Märkte in den Schwellenländern rasant: in Brasilien um 11,4 Prozent, in China 7,3 Prozent und in Indien um 11,2 Prozent. Die europäischen Top 5-Märkte wuchsen um lediglich 5,0 Prozent und der US-Markt um 7,8 Prozent.(4)
Trotz dieser relativen Schwäche gegenüber den USA und China investierten die Unternehmen im Jahr 2020 schätzungsweise 39 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung in Europa. Sie beschäftigen direkt rund 830.000 Menschen und sichern indirekt – vor- und nachgelagert – dreimal so viele zusätzliche Arbeitsplätze.(5)
Auf dieser Basis lässt sich aufbauen. Vor allem die beeindruckende Reaktion auf die Corona-Pandemie lässt erahnen, dass Europa in der Lage ist, an die weltweite Entwicklung Anschluss zu finden und in wichtigen Bereichen die Technologieführerschaft zu übernehmen.
Doch dafür sind erhebliche Anstrengungen und eine weitere Integration des europäischen Binnenmarkts erforderlich. Es gilt, die regulatorischen Rahmenbedingungen bei der klinischen Forschung und bei der Zulassung zu vereinfachen, Abläufe zu beschleunigen und zu vereinheitlichen. Der Schutz geistigen Eigentums muss verlässlich gesichert bleiben. Für die Erfassung und Nutzung von Gesundheitsdaten braucht es einen einheitlichen europäischen Datenraum. Und europäische Spitzentechnologie-Cluster müssen stärker gefördert werden, besser zusammenarbeiten und Translationsprozesse beschleunigen.
Vorteile der Harmonisierung
Im Gegensatz zu anderen großen Standorten auf der Welt sind die europäischen Rahmenbedingungen für Forschung, Innovation und Produktion in Europa vielen Bereichen länderspezifisch und von jeweils eigenen nationalen Interessen geprägt. Eine Harmonisierung im Rahmen einer industriepolitischen Strategie kann den Standort Europa nachhaltig stärken.
Schutz geistigen Eigentums
Um im globalen Kontext erfolgreich zu sein, braucht die Industrie innovationsfreundliche Rahmenbedingungen. Innovationen im Gesundheitsbereich sind langwierig, äußerst komplex, kostenintensiv und risikoreich. Die Weiterentwicklung einer nachhaltig erfolgreichen pharmazeutischen Industrie setzt wirksame Forschungsanreize voraus, die ihrerseits den garantierten Schutz des geistigen Eigentums (IP) erfordern. Einschränkungen dieses Schutzes hemmen Innovationsaktivitäten und unterlaufen die Bereitschaft, generiertes Wissen zu veröffentlichen. Patente sind dabei ein Kompromiss zwischen der exklusiven Nutzung einer Erfindung und der Bereitschaft, gewonnene wissenschaftliche Erkenntnisse zu teilen. Der Patentschutz sichert schließlich die breite Anwendung des Wissens und damit den Zugang zu innovativen Therapien. Patente motivieren Mitbewerber, alternative Therapien zu erforschen und damit in den Preiswettbewerb einzutreten. Dennoch zeigt die Diskussion über die Freigabe der Patente bestehende Interessenkonflikte im Hinblick auf den Schutz geistigen Eigentums.
Orphan Drugs
Medikamente zur Behandlung seltener Erkrankungen – Orphan Diseases („Waisenkrankheiten“) – nennt man Orphan Drugs. In Europa gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen das spezifische Krankheitsbild aufweisen. Es sind rund 8.000 Orphan Diseases bekannt. Zugelassene Orphan Drugs sind 10 Jahre lang vor Konkurrenz durch Wettbewerbsprodukte geschützt; es sei denn, diese erweisen sich als besser wirksam oder besser verträglich.
Die Beibehaltung eines robusten und verlässlichen Schutzes geistiger Eigentumsrechte ist essenziell, um Forschung und Entwicklung in Europa zu fördern und weltweit wettbewerbsfähig zu bleiben. Nur so können innovative Therapieangebote auch weiterhin die Patient:innen erreichen. Jedwede Einschränkungen, sei es im Bereich ergänzender Schutzzertifikate (sog. SPC), Einschränkungen bei Unterlagenschutz (RDP), Orphan Drugs oder Arzneimitteln, die speziell für Kinder zugelassen werden, schwächt den Standort Europa und führt allenfalls zur weiteren Verlagerung von Forschung in andere Märkte. Zudem ist es dringend notwendig, die Antibiotikaforschung zu aktivieren und bestehende Marktherausforderungen entsprechend zu adressieren. Dies kann u.a. durch Anreize für einen Markteintritt erfolgen, beispielsweise durch Erstattung eines Pauschalbetrages oder übertragbare Exklusivitätsverlängerungen.
Effektive Bürokratie
In der Konkurrenz um den Standort spielt auch die Zulassung von Medikamenten eine bedeutende Rolle. Regionen, in denen Medikamente schnell verschrieben werden können, sind einerseits attraktiv für Forschung und Entwicklung, andererseits folgt auf die Entwicklung meist die Produktion am Standort. In der EU ist es ebenso wie in den USA sichergestellt, dass neue Behandlungen für Patient:innen qualitativ hochwertig, sicher und wirksam sind. Momentan benötigt die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) ungefähr 436 Tage (Medianwert) um einen neuen Wirkstoff zu beurteilen, während diese Frist in den USA 244 Tage, in Japan 323, in Kanada 348 und in Australien 363 Tage beträgt.
Um den rasanten Fortschritten in Wissenschaft und Technologie gerecht zu werden, aber auch um mit regulatorischen Innovationen anderer Regionen mithalten zu können, müssen die europäischen Zulassungsbehörden und -methoden angepasst und weiterentwickelt werden. Um eine rasche Entwicklung von COVID-19-Behandlungen von regulatorischer Seite zu ermöglichen, ist die EMA schneller und flexibler in ihren Ansätzen geworden, ohne dabei Sicherheitsaspekte für die Patient:innen zu tangieren.
HTA
Health Technology Assessment, kurz HTA, steht für eine systematische Bewertung medizinischer Verfahren und Technologien mit Bezug zur Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Alle Daten (Evidenz) werden unter einer bestimmten Fragestellung beurteilt und bewertet. HTA-Berichte informieren Ärzt:innen, Gesundheitsbehörden, Krankenkassen oder Patient:innen über den medizinischen und gesundheitsökonomischen Wert, sowie den sozialen, ethischen und legalen Rahmen der jeweiligen Fragestellung. HTA ist keinesfalls auf Arzneimittel beschränkt, wird aufgrund hochwertiger Studien in diesem Bereich aber besonders oft verwendet.
Diese neuen, schnelleren und flexibleren Ansätze sollten auch nach dem Ende der Pandemie erhalten werden. Eine Vereinfachung von Verfahren, minimierte doppelte Prüfungen und beschleunigte Beurteilungen schonen Ressourcen in Regulierungsbehörden und Industrie gleichermaßen. Ein einheitliches europaweites Verfahren zu Bewertungsverfahren von Arzneimitteln, das sogenannte Euro-HTA (Health Technology Assessment), das parallel zur eigenen nationalen Kostenwirksamkeitsprüfung erfolgt, würde Mehraufwand reduzieren und nationale Entscheidungen über den Patientenzugang beschleunigen. Die Souveränität der Mitgliedsstaaten, eine Entscheidung über Preis und Erstattung eigenverantwortlich zu treffen, bleibt dadurch unangetastet. Innerhalb Deutschlands müssen sich widersprechende Regularien und Bewertungen auf Bundes- und Regionalebenen allerdings noch aufgehoben werden.
Forschungskooperationen
Innerhalb der EU bestehen bereits enge Forschungskooperationen, die im Grad ihrer Vernetzung jedoch noch längst nicht so erfolgreich und effektiv sind wie Forschungskooperationen in den USA oder im asiatischen Raum. Dies liegt zum einen an nicht ausreichender finanzieller Förderung, zum anderen an strukturellen Rahmenbedingungen bei Public Private Partnerships (PPP).
Um die europäischen Forschungskooperationen im Weltmaßstab nach vorn zu bringen und die vorhandene Vielfalt ausspielen zu können, braucht es abgesehen von einer höheren finanziellen und strukturellen Förderung öffentlicher und öffentlich-privater Forschungskooperationen vor allem einen signifikanten Bürokratieabbau sowie ein Minimum öffentlich-rechtlicher Verfahrensregeln. Außerdem ist eine Professionalisierung der PPP-Modelle überfällig.
Europäische Wettbewerbsfähigkeit
Spätestens die COVID-19 Pandemie hat gezeigt, dass Länder nicht autark handeln können, sondern (über)regionale Kooperationen brauchen. Geographisch diversifizierte und resiliente Lieferketten versetzen Hersteller in die Lage, bei Bedarf Anpassungen vorzunehmen und auf mögliche Engpässe und Schwierigkeiten reagieren zu können. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass innereuropäische Exportbeschränkungen zu ernsthaften negativen Auswirkungen und Lieferherausforderungen für innovative Arzneimittelunternehmen führen können. Sie erhöhen das Risiko von Engpässen und behindern die Durchführung klinischer Studien. Im Gegensatz zum patentfreien (generischen) Sektor der Arzneimittelindustrie kommen bereits heute mehr als 75 Prozent der für die Herstellung innovativer Medikamente benötigten Wirkstoffe aus Europa. Angesichts eines härter umkämpften Weltmarkts und der Bemühungen nicht-europäischer Länder, die nationale Arzneimittelproduktion zu stärken, sollte die EU sicherstellen, weiterhin attraktive Rahmenbedingungen für Forschung, Entwicklung und Fertigung von innovativen Medikamenten zu bieten, um sich global als Exzellenzzentrum für Forschung & Entwicklung zu positionieren.
Freihandel stimuliert wirtschaftliches Wachstum und schafft Arbeitsplätze. Die unbürokratische und dauerhafte Abschaffung von Zöllen auf Medikamente, Impfstoffe, deren Vorprodukte, medizinische Produkte sowie Schutzausrüstung durch die Fortschreibung bestehender WTO-Abkommen sind relevante Meilensteine auf dem Weg zu einer integrierten Handelspolitik, die eine Pandemiebekämpfung fördert und nationale Gesundheitssysteme wie Unternehmen entlastet. Hilfreich ist darüber hinaus auch eine pragmatische Zusammenarbeit zur Vermeidung aufwändiger Zollverfahren. Mit ihrer Handelspolitik sollte die EU danach streben, weiterhin weltweit Maßstäbe zu setzen und internationale regulatorische Kooperationen zu fördern. Nichtdiskriminierende Handels- und Investitionsbedingungen sind unabdingbar, damit Unternehmen in einem transparenten und vorhersehbaren Umfeld operieren können. Nur so werden Patient:innen auch künftig einen besseren und schnelleren Zugang zu innovativen Arzneimitteln erhalten.
Studienstandort Europa
Klinische Prüfungen sind ein entscheidender Abschnitt in der Entwicklung innovativer neuer Medikamente und Impfstoffe und damit auch ein wichtiger Erfolgsfaktor für die in Deutschland tätigen forschenden Pharmaunternehmen. Aktuell hält der Forschungsstandort Deutschland noch eine globale Spitzenposition in der Medikamentenforschung. Doch hinsichtlich klinischer Studien verliert Deutschland seit Jahren signifikant an Terrain. Zwischen 2016 und 2019 rutschte das Land im internationalen Ranking von Platz 2 auf Platz 5 ab. 2020 konnte sich Deutschland zwar wieder auf Platz 4 verbessern – aber nur, weil Großbritannien aufgrund des Brexit und der Corona-Pandemie besonders betroffen war. Tendenziell befindet sich Deutschland weiter auf dem Rückzug, der relativ stärker ausfällt als in anderen EU-Ländern. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Um in Deutschland eine klinische Prüfung aufzusetzen, benötigen Unternehmen bis zu einem Jahr Zeit. Während die Studieninitiatoren hierzulande noch Verträge mit Arztpraxen und Kliniken aushandeln, werden in anderen Ländern bereits Patient:innen in die Studie aufgenommen. Da deutsche Kliniken und Prüfzentren im internationalen Wettbewerb stehen und viele klinische Prüfungen global durchgeführt werden, handelt es sich häufig um ein und dieselbe Studie, die an vielen Standorten auf der ganzen Welt durchgeführt wird. Wenn deutsche Zentren aufgrund der langwierigen Abläufe weniger Zeit für die Rekrutierung von Patient:innen haben, stehen damit entweder weniger Studienteilnehmer als bei internationalen Mitbewerbern zur Verfügung oder deutsche Unternehmen werden gar nicht erst zur Teilnahme eingeladen. Dann finden Studien ohne deutsche Beteiligung statt.
Es liegt dabei im Interesse von Industrie, Gesundheitswesen und Patient:innen, dass Deutschland künftig wieder eine weltweit führende Stellung bei klinischen Prüfungen einnimmt. Harmonisierte Prozesse wie die neue EU Clinical Trial Regulation sind ein richtiger und wichtiger Schritt in diese Richtung. Die am Standort Deutschland noch erforderlichen Maßnahmen reichen von der Vorgabe von Musterverträgen über die klare Harmonisierung datenschutzrechtlicher Vorgaben sowie der Verfahren der Ethik-Kommissionen bis hin zur besseren Nutzung der Digitalisierung auch im Bereich klinischer Prüfungen. Unter diesen Voraussetzungen kann Deutschland im internationalen Ranking wieder einen Spitzenplatz einnehmen.
Europäischer Datenraum
Die Verwendung von anonymisierten Gesundheitsdaten birgt ein großes Potenzial für Innovationen im Bereich der Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln und Medizinprodukten. Deshalb ist die Errichtung einer interoperablen Datenzugangsinfrastruktur ein Schlüssel für die Nutzung dieser Daten.
Der Vorschlag der EU-Kommission für einen gemeinsamen europäischen Datenraum (European Health Data Space – EHDS) zielt darauf ab, datenbasierte, individuelle Therapien oder Behandlungen „Made in Europe“ zum Nutzen der Patient:innen zu entwickeln und die medizinische Versorgung der Menschen in Europa insgesamt zu verbessern. Mit dem EHDS entsteht eine gemeinsame Infrastruktur für den rechtlich einwandfreien und abgesicherten Einsatz von Gesundheitsdaten, mithin die Grundlage einer verbesserten und schnelleren Entwicklung von Therapien, Medikamenten und Untersuchungsmethoden, von denen Millionen Menschen unmittelbar profitieren – nicht zuletzt bei der Bekämpfung seltener Krankheiten oder der Bewältigung globaler Pandemien. Und Patient:innen werden souveräner: Sie können kostenlos und unter bestmöglichem Schutz ihrer Daten ihre Befunde, Bilder, Untersuchungs- oder Entlassungsberichte online abrufen oder digitale Gesundheitsangebote europaweit nutzen.
Quellen:
(1) Vgl. Industriepolitische Strategie der Europäischen Kommission, online verfügbar.
(2) Pharmaprojects & SCRIP, März 2019.
(3) EFPIA-Jahresberichte 1990–2021.
(4) IQVIA MIDAS, Mai 2019.
(5) PwC, Economic and societal footprint of the pharmaceutical industry in Europe, Juni 2019.