Erfolgsfaktor Digitalisierung
Auch wenn nirgendwo sonst so viele Daten erhoben werden wie im Gesundheitswesen, liegen die damit verbundenen Erkenntnispotenziale weitgehend brach. Gemessen an den schon vorhandenen technischen Möglichkeiten, fehlt es an einer integrierten digitalen Gesundheitspolitik mit einheitlichen Prozessen sowie leistungsfähigen Infrastrukturen. Um die Chancen der Digitalisierung für Forschung und Entwicklung zu nutzen, brauchen wir klare Regeln, entsprechend gerüstete öffentliche Institutionen sowie Beteiligungsmöglichkeiten für die private Forschung.
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Die Erhebung, Aufbereitung und Verwertung von Gesundheits- bzw. Krankheitsdaten ist wesentlicher Bestandteil moderner Medizin und insbesondere Arbeitsgrundlage der forschenden Pharma-Unternehmen.(1)
Dabei war die Entstehung neuer, großer Krankenhäuser, sogenannter „Kliniken“, um das Jahr 1800 herum die entscheidende Voraussetzung für die bahnbrechenden Erkenntnisse herausragender Gesundheitswissenschaftler wie Louis Pasteur, Rudolf von Virchow, Robert Koch oder Paul Ehrlich. Nahezu alle großen Erfolge dieser „Klinischen Medizin“ in den letzten 150 Jahren sind Erfolge eines neuen, systematischen Umgangs mit Daten.
Zentrale Orte der Gewinnung und Verarbeitung von Gesundheitsdaten haben in den letzten Jahrzehnten, vor allem durch die Gründung von überregional agierenden Gesundheitszentren, wie die US-amerikanischen „National Institutes of Health“ oder die „Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung“, weiter an Bedeutung gewonnen. Über die Systematisierung und langfristige Sicherung von Daten, die zunächst nur zum Zweck und im engen Rahmen klinischer Studien erhoben wurden, entwickelten sich große „medizinische Bibliotheken“ wie die US National Library of Medicine eingerichtet, wo auch das weltweit führende Register für Klinische Studien geführt wird.
Mit dem Siegeszug des Internets, der Entschlüsselung des menschlichen Genoms und der ökonomisch-technische Globalisierung eröffnen sich der modernen Medizin neue Chancen, aber auch Herausforderungen, die es im Interesse von Patient:innen, Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft zu meistern gilt.(2)
Digitalisierung in F&E(3)
Die Aufschlüsselung der Genome (Genomsequenzierung) und der Einsatz von diagnostischen Tests (Biomarker Identifikation; Molekulardiagnostik) durch Big Data-Anwendungen ermöglichen bislang ungekannte Fortschritte in der Forschung und damit auch bessere klinische Studien. Zu deren Ergebnissen gehören neue, personalisierte Therapiemöglichkeiten und Behandlungsansätze, darunter Tumorvakzine, die in kürzester Zeit, basierend auf genomischer Information, Patient:innenspezifisch hergestellt und als therapeutische Impfung verabreicht werden können. Innovative Unternehmen entwickeln diese Vakzine auf Basis der mRNA-Technologie. Eine zentrale Rolle spielen dabei große Datenmengen sowie deren Verarbeitung und Auswertung mithilfe von Big Data-Technologien.
Jeden Tag erscheinen bis zu 10.000 neue wissenschaftliche Publikationen – Tendenz steigend. Für die einzelnen Wissenschaftler:innen wird es immer schwerer, auch nur in einem Fachgebiet den Überblick zu behalten. Mit speziell entwickelten Algorithmen lassen sich die für die medizinische Forschung relevanten Publikationen zielgerichtet identifizieren. So entstehen maßgeschneiderte Fachliteratur-Kollektionen, die neue Erkenntnisse sowohl innerhalb einer Disziplin als auch assoziierter Wissensbereiche zusammenfassen und Hinweise auf neue Entwicklungsansätze und -linien erlauben. Das erleichtert den Austausch über Fachgrenzen hinweg und gibt Impulse für neue Ideen und FuE-Ansätze.
Klinische Studien
In klinischen Studien erhält eine Gruppe von Patient:innen zusätzlich zur Standardtherapie die zu prüfende neue Therapie. Die Kontrollgruppe bekommt zusätzlich zur Standardtherapie ein Scheinmedikament. Ein Vergleich der beiden Gruppen belegt die gegebenenfalls bessere Wirksamkeit des neuen Arzneimittels. Da sich die Kontrollgruppe mithilfe vorhandener Patient:innendaten in manchen Fällen schon virtuell simulieren lässt, sind perspektivisch kleinere, zeit- und kostensparende Studien möglich, bei denen Patient:innen nur die neue und womöglich bessere Therapie erhalten. Dafür werden Daten vergleichbarer Patient:innen herangezogen, die außerhalb von klinischen Studien die übliche Behandlung erhalten haben.
Klinische Studien sind aufwändig, langwierig, und teuer. Zudem lassen sich in der personalisierten Medizin die Studiengruppen dank einer sensibleren Diagnostik immer präziser definieren. Doch weil sie dadurch auch kleiner werden, wird die Generierung medizinscher Evidenz erschwert. Deutliche Verbesserungen können sogenannte virtuelle Kontrollarme bringen.
Für die Entwicklung innovativer Arzneimittel sind forschende Pharma-Unternehmen stets auf der Suche nach neuen Wirkstoffen. Statt wie bisher einen potenziellen Wirkstoff nach dem anderen zu untersuchen, ist es dank Digitalisierung möglich, mehrere zehntausend Substanzen parallel zu untersuchen. Mithilfe künstlicher Intelligenz können Spezialist:innen in kürzerer Zeit weitaus mehr Stoffeigenschaften erfassen als bisher. Neue Data-Lab-Teams sind in der Lage, vielversprechende Moleküle für eine Therapie umfassender, schneller und mit weniger Aufwand zu identifizieren, die dann im nächsten Schritt punktuell weiter verändert werden, um Krankheiten gezielter und mit weniger Nebenwirkungen zu bekämpfen – auch dabei kann KI von Nutzen sein.
Digitalisierung in der Produktion
Im Hinblick auf die erfolgreiche Transformation hin zu einer wissensbasierten Ökonomie und Hightech-Medizin ist Deutschland gut aufgestellt. Der Wertschöpfungsanteil der wissensbasierten Produktion hat sich trotz eines starken internationalen Wettbewerbers positiv entwickelt.(4)
Allerdings zeigt der Blick auf sog. „Unicorns“, also die mit über 1 Milliarde Euro bewerteten Start-ups im Bereich von Health-Tech-Innovationen, dass die Potenziale der Digitalisierung für Wertschöpfung und Gesundheitsversorgung in Deutschland bei weitem noch nicht ausgereizt sind. Von insgesamt 76 Healthtech-Unternehmen, die von 2019 bis 2021 mit über 1 Milliarde Euro bewertet wurden, stammen nur zwei Unternehmen aus Deutschland, dagegen 51 aus den USA.(5)
Das schränkt die Möglichkeiten für eine innovative Weiterentwicklung des Gesundheitswesens und der forschenden Pharma-Unternehmen deutlich ein, was auch ganz konkrete Nachteile in der Produktion von Arzneimitteln haben kann.
Denn in der Produktion von Arzneimitteln wird die Ergebnisqualität mithilfe digitaler Überwachung und intelligenter Vernetzung von Produktionseinheiten gesichert. Ein weiterer Schritt zur Verbesserung der Sicherheit von Arzneimitteln in der Versorgung sind digitale Produkt- und Gebrauchsinformationen. Beispiel hierfür sind die Pilotprojekte „Gebrauchsinformation 4.0“ und „Securpharm“.
Entlang des gesamten Vertriebswegs und in der Anwendung soll damit die Sicherheit von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln durch adressatengerechte elektronische Gebrauchs- und Fachinformationen weiter erhöht werden. Die Patient:innen sind dank der lückenlosen Rückverfolgbarkeit einzelner Packungen wirksam vor Arzneimittelfälschungen in der legalen Lieferkette geschützt. Der pharmazeutischen Industrie ist es im Zuge der Corona-Krise schon gelungen, die Versorgungswege durch eine umfassende Digitalisierung der Lieferketten krisenfester zu machen.(6)
Digitalisierung in Zulassung und Diagnose
Die Kombination von moderner Diagnostik und innovativem Arzneimittel ermöglicht eine personalisierte Medizin, die die Wirkungsprofile der Arzneimittel weiter schärft und den Patient:innen eine an die jeweilige Erkrankung bestmöglichangepasste Therapie bietet.
Um die für eine personalisierte Medizin geeigneten Biomarker zu identifizieren und zu validieren, ist ein besonderer Forschungsaufwand nötig. In Biodatenbanken werden die Patient:innendaten aus klinischen Studien mit genetischen Daten (Sequenzierungsdaten) verknüpft. Ziel ist die Entwicklung neuer Biomarker, um den Patient:innen schneller zu einer für sie geeigneten Therapie zu verhelfen.
Angesicht dieser zunehmenden Komplexität im medizinischen Alltag können ergänzende digitale Angebote zusätzliche Information beispielsweise für den behandelnden Arzt bereitstellen. Dafür sind qualitätsgesicherte, leistungsfähige digitale Plattformen für medizinische Daten nötig, die beispielsweise dann helfen können, wenn für Patient:innen mit schwerwiegenden Erkrankungen keine Therapiemöglichkeiten vorhanden ist. Dann lässt sich mithilfe dieser Instrumente eine passende klinische Studie finden. Außerdem unterstützen sie Ärzt:innen bei der Nutzung und Kontrolle von personalisierten Therapieansätzen, indem sie einen schnellen und zuverlässigen Abgleich der Patient:innenprofile mit deren genetischen Daten ermöglichen und verfügbare Medikationen und Therapiemöglichkeiten aufzeigen.
Digitalisierung und Versorgung
Sammlung (Tracking und Register) und Auswertung von (Echtzeit-)Daten aus dem Versorgungsalltag können zusätzliche Nachweise (Evidenz) zum Nutzen von Arzneimitteln erbringen. Digitale Angebote unterstützen Patient:innen aktiv dabei, ihre Therapietreue zu erhöhen und die Sicherheit und Qualität der Arzneimitteltherapie durch ein medizinisches Monitoring der Behandlungsdaten, zum Teil in Echtzeit, weiter zu verbessern. Ergänzende digitale Angebote bieten Patient:innen persönliche Schulungsprogramme zu ihrer Erkrankung, zu alltagsrelevanten Therapiehinweisen (Disease Awareness und Patient Support Programme) oder zur Prävention. Dazu zählen auch personalisierte Krankheits-Management-Programme und gezielte Lifestyle-Coachings, die den Einsatz von Apps, Web-Portalen und persönlichen Schulungsprogrammen kombinieren.
Gerade bei aufwendigen und kostenintensiven Therapien, wie zum Beispiel bei Krebserkrankungen, ist es grundsätzlich vielversprechend, die individuelle Situation mit möglichst vielen gleichartigen Krankheitsbildern zu vergleichen, um die bestmögliche Therapie zu identifizieren. Das wird mithilfe eines intelligenten Systems erheblich erleichtert.
Die Industrie setzt sich mit Krankenkassen sowie Informations- und Kommunikationstechnologie-Unternehmen dafür ein, dass Ärzt:innen und medizinisches Fachpersonal die Behandlung von Patient:innen stärker personalisieren, ortsunabhängiger gestalten und damit besser in den Patient:innenalltag integrieren können. Dafür wurden konkrete Projekte angestoßen. So unterstützen zum Beispiel elektronische Patient:innentagebücher und elektronische Fallakten die fachärztliche Versorgung bei komplexen Herausforderungen und vorhandenen Ressourcenproblemen. Insbesondere bei chronischen oder seltenen Erkrankungen mit hohem Dokumentationsaufwand und dem Bedarf an einem schnellen Fachaustausch zwischen den unterschiedlichen Bereichen der Versorgung schaffen diese telemedizinischen Projekte einen Mehrwert für den Patient:innen und für die Versorgungsqualität. Ein anderes Beispiel ist die intelligente Verknüpfung von Arzneimittel und Medizinprodukt durch Smart Devices in der Versorgung von Patient:innen mit chronischen Erkrankungen. Diese Smart Devices können die medizinischen Daten digital messen, aufzeichnen und dann zur Beobachtung in Echtzeit mit dem zuständigen medizinischen Fachpersonal sicher teilen.
Abgesehen davon, werden Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA), also zertifizierte Medizinprodukte niedriger Risikoklassen, deren Hauptfunktion auf digitalen Technologien beruhen, für die innovative Arzneimittelversorgung und Therapieentwicklung erheblich an Bedeutung zunehmen. Sie zeichnen sich durch eine hohe Nutzerfreundlichkeit aus und können deshalb nachweislich die Versorgung und Lebensqualität von Patient:innen verbessern.
Datenschatz der Gesellschaft
Die Digitalisierung bietet enorme Chancen. Doch um diese umfänglich auszunutzen, bedarf es zentraler Weichenstellungen. Bund und Länder spielen bei der Bereitstellung zentraler Infrastrukturen eine wichtige Rolle. Deren Finanzierung sollte zumindest dem internationalen Niveau entsprechen.
Erst unter diesen Voraussetzungen sind Daten verfügbar und können sowohl in der öffentlich als auch privat finanzierten Forschung genutzt werden. Modelle eines Datentreuhänders und einer öffentlich vorgehaltenen Dateninfrastruktur für Gesundheitsdaten können helfen, die Anforderungen des Datenschutzes einerseits und Forschungsinteressen andererseits in Einklang zu bringen.
In der Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und wissenschaftlichen Einrichtungen aus unterschiedlichen Disziplinen liegen erhebliche Synergiepotenziale. Die aktive Förderung eines interdisziplinären Ökosystems in der digitalen Gesundheitsforschung kann diese Potenziale heben, beispielsweise über Anschubfinanzierungen für Leuchtturmprojekte oder eine gezielte Unterstützung von Start-ups im Bereich der digitalen Gesundheitsforschung.
Letztlich erfordern neue wissenschaftliche Methoden und veränderte Gegebenheiten eine Anpassung der Zulassungsverfahren. Auch müssen die mit neuen Methoden gewonnen Erkenntnisse in der Nutzenbewertung Anerkennung finden.
Quellen
(1) Leven, Karl-Heinz: Geschichte der Medizin. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 2008, S. 50ff; Röthlein, Brigitte: Mare Tranquillitatis. 20. Juli 1969. Die wissenschaftlich-technische Revolution, München 1997, S. 184ff.
(2) Vgl. EFI-Jahresgutachten 2022, Kernthema B.4 Digitale Transformation im Gesundheitswesen, S. 94–105, online verfügbar; SVR Gesundheit: Gutachten 2021 „Digitalisierung für Gesundheit. Ziele und Rahmenbedingungen eines dynamisch lernenden Gesundheitssystems“, online verfügbar.
(3) Vgl. Rainer Thiel/Lucas Deimel/Charlotte Fabricius: Stand und Perspektiven der Gesundheitsdatennutzung in der Forschung. Eine europäische Übersicht, Studie im Auftrag des vfa, Bonn 2021, online verfügbar.
(4) SVR Wirtschaft Jahresgutachten 2019/2020, S. 155, online verfügbar.
(5) EFI-Jahresgutachten 2022 (siehe Anm. 2), S. 101.
(6) Vgl. Rammer, Christian et.al.: INNOVATIONSINDIKATOREN CHEMIE UND PHARMA 2021. Schwerpunktthema: Corona-Pandemie und Innovationen in Chemie und Pharma, Studie im Auftrag des Verbandes der Chemischen Industrie e. V., Mannheim/Hannover 2021, online verfügbar; Kirchhoff, Jasmina/Francas, David/Fritsch, Manuel: Resilienz pharmazeutischer Lieferketten, Studie im Auftrag des vfa, Köln/Heilbronn 2022, online verfügbar.