Big Data, KI und Pharmaforschung – Digital zu neuen Medikamenten?
Krankheiten immer besser zu verstehen und wirksame Therapien zu entwickeln, daran arbeiten Forscherinnen und Forscher in der Pharmaindustrie jeden Tag. Dennoch vergehen von der Idee bis zur Zulassung eines Medikaments rund 13 Jahre. Digitale Tools sind ein Schlüssel, um diese Zeitspanne deutlich zu verkürzen. Warum die Medizin von morgen heute Digitalisierung braucht.
Rasant wachsende Datenmengen, immer leistungsfähigere Computer und zunehmend klügere Algorithmen: Das sind die Zutaten für große Hoffnungen, die auch vor dem Gesundheitswesen nicht halt machen. Big Data und Künstliche Intelligenz sind dabei Schlagworte, die auch viele Prozesse rund um die Entwicklung von Arzneimitteln deutlich beschleunigen und effizienter machen könnten. Was das konkret bedeutet, zeigen forschende Pharma-Unternehmen bereits heute.
Das personalisierte Literaturpaket
Jeden Tag erscheinen acht- bis zehntausend neue wissenschaftliche Publikationen – Tendenz steigend. Auch nur in einem Fachgebiet den Überblick zu behalten, wird da für den einzelnen Wissenschaftler immer schwerer. Beim forschenden Pharma-Unternehmen AbbVie zum Beispiel setzt man in dieser Situation auf die Hilfe einer Künstlichen Intelligenz. Mit speziell entwickelten Algorithmen fischt Data Scientist Dr. Lars Greiffenberg für seine Forscherkolleginnen und Kollegen Tag für Tag das jeweils Wichtigste aus dem weltweiten Ozean an Wissen heraus. So entstehen maßgeschneiderte Fachliteratur-Kollektionen, die Neues aus der eigenen Disziplin zusammenfassen und Einblicke in benachbarte Gebiete erlauben. Das erleichtere den Austausch über Fachgrenzen hinweg und stimuliere neue Ideen, sagt Greiffenberg, der bei AbbVie den Bereich Translational Informatics leitet. Seine Vision: eine Art Spotify für die Wissenschaft – ein Streamingdienst, der neue Literatur individuell angepasst zusammenstellt und den Horizont mit klugen Vorschlägen erweitert.
Schneller zum Ergebnis
Klinische Studien sind aufwändig, langwierig, und teuer. Deutliche Verbesserungen können sogenannte virtuelle Kontrollarme bringen. Bisher bekommt eine Gruppe von Patienten in klinischen Studien zusätzlich zur Standardtherapie die zu prüfende neue Therapie. Die Kontrollgruppe bekommt zusätzlich ein Scheinmedikament. Mit diesem Vergleich lässt sich die gegebenenfalls bessere Wirksamkeit des neuen Arzneimittels belegen. Diese Kontrollgruppe kann aber inzwischen in manchen Fällen mit bereits vorhandenen Patientendaten virtuell simuliert werden. Das ermöglicht kleinere Studien, bei denen Patienten nur die neue und womöglich bessere Therapie erhalten. Außerdem spart das sowohl Zeit und Kosten. Als Grundlage dienen Daten vergleichbarer Patienten, die außerhalb von klinischen Studien die übliche Behandlung erhalten haben. Beim forschenden Arzneimittelhersteller Roche hat man damit bereits praktische Erfahrungen gesammelt. Die Daten für die künstliche Kontrollgruppe stammen von einem Tochterunternehmen, das sich auf die Aufbereitung von Behandlungsdaten aus US-Kliniken für die Krebsforschung spezialisiert hat.
"Wer davon ausgeht oder der Meinung ist, dass in wenigen Jahren der Mensch als Forscher ausgedient hat, der liegt ziemlich falsch."
Dr. Lars Greiffenberg ist Gesprächspartner in der #vfaTonspur-Podcastfolge "Künstliche Intelligenz als Helferin der Wissenschaft".
Datenschatz aus Molekülen
Für die Entwicklung innovativer Arzneimittel sind forschende Pharma-Unternehmen stets auf der Suche nach neuen Wirkstoffen. Wie Datenalgorithmen und Roboter hier die Wissenschaftler aus Fleisch und Blut bereits heute unterstützen, zeigt sich etwa beim forschenden Pharma-Unternehmen Sanofi. Statt wie bisher einen potenziellen Wirkstoff nach dem anderen zu untersuchen, erforschen die Wissenschaftler dort mehrere zehntausend Substanzen parallel. Mithilfe künstlicher Intelligenz gelingt es dem Bioinformatiker Dr. Norbert Furtmann und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, in kürzerer Zeit weitaus mehr Stoffeigenschaften zu erfassen als früher. Vielversprechende Moleküle für die Therapie kann das Data-Lab-Team jetzt umfassender, schneller und mit weniger Aufwand identifizieren. Im nächsten Schritt können die vielversprechendsten Moleküle punktuell weiter verändert werden, um Krankheiten gezielter und mit weniger Nebenwirkungen zu bekämpfen – auch dabei kann KI von Nutzen sein.
Nur drei Beispiele, die zeigen, was bereits heute möglich ist. Ob für die Erforschung von Krankheiten oder für die Entwicklung neuer Medikamente – Forscherinnen und Forscher in Pharma-Unternehmen sind auf Patientendaten angewiesen. Eine wichtige Quelle dafür sind zum Beispiel elektronische Patientenakten. Neben Informationen aus Diagnostik und Therapie zählen dazu ebenso Studiendaten der forschenden Arzneimittelhersteller, aber auch individuell erhobene Vitaldaten, etwa mithilfe von Fitness-Trackern oder Wearables. Je größer die Datenbasis ist, desto zuverlässiger können die Ergebnisse sein. Die Idee dahinter: Die Daten von möglichst vielen Patienten liefern ein umfassenderes Bild der Vor- und Nachteile einer Therapie als dies heute oft möglich ist. Diese Daten nützen jedoch nur, wenn sie den Forscherinnen und Forschern auch zur Verfügung stehen. Daher brauchen die forschenden Pharma-Unternehmen in Deutschland den Zugang zu anonymisierten Patientendaten, damit Spitzenforschung auch in Zukunft hierzulande möglich ist.