#MacroScopePharma 02/24
Der Economic Policy Brief des vfa
„Gute Arbeit“: Tarifbindung ist längst keine Selbstverständlichkeit mehr
Gute Arbeitsbedingungen, faire Bezahlung und eine sichere Beschäftigung sind wesentliche Voraussetzungen für eine hohe Erwerbsbeteiligung. Dabei spielt die Tarifpartnerschaft eine zentrale Rolle: Sie garantiert einen fairen Ausgleich zwischen den Interessen der Arbeitnehmer:innen und denen der Unternehmen. Die Tarifbindung sinkt deutschlandweit allerdings seit geraumer Zeit – von 61 Prozent der Beschäftigten im Jahr 2010 auf 51 Prozent im Jahr 2022. Dies gilt jedoch nicht für alle Wirtschaftszweige. Manche haben die Tarifabdeckung deutlich verbreitert.„Gute Arbeit“ ist eine wichtige Voraussetzung für die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Sind die Arbeitsbedingungen schlecht, die Arbeitsplatzsicherheit gering oder die Gesundheitsrisiken im Job hoch, werden weniger Menschen erwerbstätig oder es scheiden mehr Menschen früher aus dem Erwerbsleben aus.
In einer alternden Gesellschaft verschärft dies das Problem der ohnehin sinkenden Erwerbstätigenzahl, weil das Erwerbspersonenpotenzial weniger ausgeschöpft wird. In Deutschland wird die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter bis zum Jahr 2030 selbst bei optimistischen Annahmen hinsichtlich der Zuwanderung erheblich sinken: von derzeit gut 63 Millionen um rund drei Millionen.(1)
Umso wichtiger ist es, gute Arbeitsbedingungen in Deutschland zu stärken.
Doch was macht „gute Arbeit“ aus? Gewerkschaften verbinden damit vor allem gut bezahlte Arbeit, sichere und reguläre Beschäftigungsverhältnisse, faire Arbeitsbedingungen und die Chance auf Aufstieg und Fortbildung.(2)
Die OECD bezieht darüber hinaus Faktoren wie das soziale Umfeld oder die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit ein.(3)
Kern aller Konzepte sind angemessene Entlohnung und Sozialleistungen sowie geregelte Arbeitsverhältnisse.
Deutschland europaweit mit hohem Anteil „guter Arbeit“
Die Qualität der Arbeit wird von der Europäischen Kommission in regelmäßigen Abständen in Befragungen erhoben und lässt sich damit zwischen Ländern vergleichen. Im „job quality summary index“ werden die Arbeitsverhältnisse entlang von zwölf Kenngrößen bewertet, unter anderem der Flexibilität der Arbeit, der sozialen Kontakte und der Entlohnung (Infobox).
Der Anteil hochwertiger Arbeitsverhältnisse ist vor allem in den nord- und mitteleuropäischen Ländern besonders hoch. Die Niederlande, Norwegen, Österreich, Dänemark und Schweden liegen vor Deutschland. Hierzulande fällt gut ein Viertel aller Beschäftigungsverhältnisse in die beste von sechs Kategorien, die die Arbeitsqualität von „extrem belastend“ bis „sehr gut“ einordnen. Im unteren Drittel finden sich Frankreich, Italien und Griechenland mit einem nur rund halb so hohen Anteil (Abbildung 1.A). In Frankreich beispielsweise entfallen fast 40 Prozent aller Arbeitsverhältnisse in die drei Kategorien „belastender“ Arbeitsverhältnisse, in Deutschland nur 24 Prozent.
In der deutschen Industrie und Landwirtschaft – beide Bereiche sind in der Erhebung zusammengefasst – ist der Anteil hochwertiger Arbeitsverhältnisse zwar mit 22 Prozent etwas geringer, wohl aufgrund einer niedrigeren Flexibilität in der Arbeitszeitgestaltung beziehungsweise einer höheren körperlichen Belastung als im öffentlichen Dienst oder dem Dienstleistungssektor. Aber auch hier rangiert Deutschland im europäischen Vergleich auf einem der vorderen Plätze (Abbildung 1.B).
Tarifbindung sinkt in Deutschland
Die Qualität der Arbeit wird häufig mit dem Grad der Tarifbindung – also dem Anteil der Beschäftigten, die nach Tarifvertrag entlohnt werden – in Verbindung gebracht. Dass dies nicht alleiniger Faktor ist, zeigt der Vergleich europäischer Länder. Deutschland rangiert dabei mit einer nur knapp hälftigen Tarifabdeckung im unteren Drittel, mit deutlichem Abstand zu der vom EU-Parlament angestrebten Zielmarke von 80 Prozent.(4)
Gleichwohl gilt die Tarifpartnerschaft in Deutschland als wesentlich stärker am Interesseausgleich orientiert als in vielen anderen europäischen Ländern. Zumindest deutet darauf die geringere Häufigkeit an Streiks hin.(5)
Eine dauerhaft rückläufige Tarifbindung würde dieses Modell in absehbarer Zeit infrage stellen. Tatsächlich sinkt die Tarifbindung in Deutschland seit mittlerweile einem Vierteljahrhundert. Von knapp 80 Prozent im Jahr 1996 ging sie auf zuletzt 51 Prozent im Jahr 2022 zurück.
Die Gründe hierfür sind einerseits im anhaltenden strukturellen Wandel zu suchen. In einem steigenden Teil kleinerer Betriebe im Dienstleistungsbereich und neuer digitaler Services ist die Arbeitnehmerschaft wesentlich schwächer gewerkschaftlich organisiert als in der Industrie.(6) Andererseits gibt es auch innerhalb der Industrie Wirtschaftszweige, deren Tarifabdeckung sichtbar gesunken ist: Vor allem in der Tabakindustrie, der Getränkeherstellung und bei Lederwaren, aber auch bei Druckerzeugnissen gibt es seit dem Jahr 2010 sichtbare Einschnitte von 14 bis 26 Prozentpunkten.
Die Tarifbindung ist in der Industrie insgesamt nur deswegen stabil geblieben, weil einige große Branchen teils kräftige Zuwächse bei der Tarifbindung verzeichnet haben. Allen voran sind dies die Automobilindustrie und der Fahrzeugbau, die Mineralölverarbeitung, die Pharma- sowie die Chemieindustrie. Pharma hat die ohnehin überdurchschnittliche Tarifabdeckung gegenüber dem Jahr 2010 erheblich ausgebaut. So liegt diese nun bei 71 Prozent nach 64 Prozent im Jahr 2010. Dabei zeigt sich auch ein ausgeprägter Zusammenhang zwischen Tarifabdeckung und der durchschnittlichen Betriebsgröße innerhalb einer Branche: Je größer die Betriebe, desto breiter die Gültigkeit von Tarifabschlüssen.
Hohe Tarifbindung, gute Gehälter
Eine zentrale Kennzahl „guter Arbeit“ ist eine angemessene Entlohnung. Grundsätzlich gilt dabei: Je größer die Tarifbindung in einer Branche, desto höher sind die Bruttogehälter. Rund zwei Drittel der Lohnunterschiede zwischen den Wirtschaftszweigen des verarbeitenden Gewerbes können mit der Tarifbindung erklärt werden. Dies ist zunächst nur ein statistischer Zusammenhang. Viele Studien belegen indes, dass eine hohe Tarifbindung zu höheren Löhnen führt. Neuere Arbeiten stellen eine Lohndifferenz von rund sechs Prozent zwischen tarifgebundenen und tarifungebundenen Arbeitsverhältnissen fest – bei gleicher Tätigkeit und bei identischen individuellen Eigenschaften.(7)
Im Durchschnitt betrug der Jahresbruttoverdienst im Jahr 2022 einschließlich aller Sonderzahlungen 56.334 Euro bei einer Vollzeitbeschäftigung. Das Lohnniveau der Industrie lag dabei mit 60.221 Euro rund sieben Prozent über dem gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt. Das Lohnniveau unterschied sich zwischen den Branchen des verarbeitenden Gewerbes allerdings erheblich. Die höchsten Löhne wurden mit mehr als 93.000 Euro in der Mineralölverarbeitung gezahlt – die geringsten mit knapp 41.000 Euro in der Lederverarbeitung.
Pharma mit guten Gehältern
Dabei gibt es systematische Unterschiede zwischen den Branchen, die die auseinanderklaffenden Lohnniveaus erklären. Eine wichtige Größe ist die Produktivität: Je größer die Wertschöpfung je Beschäftigter:m ist, desto höher ist das Lohnniveau in der jeweiligen Branche. Die Produktivität wiederum ist maßgeblich durch die Modernität der eingesetzten Maschinen und Anlagen, die Qualifikation der Beschäftigten und die Innovationsintensität einer Branche bestimmt.(8)
Daher ist es wenig überraschend, dass die Wirtschaftszweige mit einer überdurchschnittlich qualifizierten Belegschaft, hoher Kapitalintensität, einem modernen Maschinenpark und hohen F&E-Quoten die Gehaltsliste anführen. Darunter sind Schlüsselindustrien wie Pharma, Fahrzeugbau, Maschinenbau oder die Herstellung elektronischer Datenverarbeitungsgeräte.
Mit rund 78.000 Euro liegt die Pharmaindustrie auf Platz drei der Gehaltsliste im Industrievergleich. Dies steht im Einklang mit ihren Spitzenwerten bei der Produktivität, der Innovationsintensität, beim Akademiker:innenanteil in der Belegschaft, der Modernität des Kapitalstocks und ihrer Kapitalintensität. Hinzu kommt das hohe Maß der Tarifbindung.
Den Unterschied machen die Sonderzahlungen
Ein wichtiger Teil der Lohnunterschiede ergibt sich aus den Sonderzahlungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld (Abbildung oben). Diese Sonderzahlungen sind feste Bestandteile von Tarifverträgen. 97 Prozent der tarifgebundenen Belegschaften erhalten Urlaubsgeld. Anspruch auf Weihnachtsgeld haben 82 Prozent der tariflich Beschäftigten in der Industrie. Mit 7 bis 19 Prozent entsprechen Sonderzahlungen einem spürbaren Anteil des Bruttolohns, vor allem in Branchen mit hoher Tarifbindung. Ohne Sonderzahlungen beträgt der Variationskoeffizient der Bruttolöhne rund 2.000 Euro. Dieses Maß der Lohnspreizung zwischen den Wirtschaftszweigen steigt auf knapp 3.400 Euro unter Berücksichtigung von Weihnachts- und Urlaubsgeld. Je höher die Abdeckung der Belegschaft innerhalb eines Tarifvertrags ist, desto wichtiger sind die Sonderzahlungen als Lohnbestandteil. Die Korrelation beider Anteile ist mit rund 0,66 hoch.
Fazit: „Gute Arbeit“ hängt von zahlreichen Faktoren ab – Sozialpartnerschaft ist wichtige Voraussetzung
„Gute Arbeit“ wird angesichts der demografischen Entwicklung in Deutschland immer wichtiger. Nur wenn die Arbeitsbedingungen attraktiv sind, wird die Erwerbsbeteiligung steigen und Deutschland als Ziel der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt im internationalen Wettbewerb um die besten Talente bestehen können. Dies fordert sowohl die Politik als auch die Sozialpartner heraus.
Der europäische Vergleich der Arbeitsbedingungen zeigt, dass Deutschlands Modell der Sozialpartnerschaft generell erfolgreich ist. Offenbar wird es im Rahmen der Tarifautonomie verstanden, einen guten Ausgleich zwischen den Interessen von Beschäftigten und Unternehmen herzustellen. Dies verdeutlichen einerseits die Befragungsergebnisse europäischer Arbeitnehmer:innen, andererseits die geringe Zahl an Streiktagen in Deutschland. Deshalb ist es wichtig, die Strukturen der Sozialpartnerschaften zu stärken. Der deutliche Rückgang in der Tarifbindung sollte hier aufhorchen lassen: Ein Grund ist der Strukturwandel, der neben veränderten Wirtschaftsstrukturen neue betriebliche Strukturen hervorbringt. Für Arbeitnehmer:innen und Unternehmen besteht die Herausforderung deshalb ebenfalls in der Weiterentwicklung des Modells der Sozialpartnerschaft, um auch diesen neuen Betriebs- und Arbeitsmodellen gerecht zu werden.
Die Zahlen zeigen ebenfalls, dass in Teilen der Industrie die Tarifbindung erheblich ausgebaut wurde. Dies betrifft vielfach Branchen, die wegen ihrer hohen Produktivität und Innovationskraft zu den Schlüsselindustrien für eine erfolgreiche Transformation des Industriestandorts zählen. Darunter auch die Pharmabranche, deren Tarifbindung hoch und in den letzten zehn Jahren deutlich gestiegen ist. Die dort Beschäftigten beziehen auch deshalb weit überdurchschnittliche Gehälter.
Eine Wirtschaftspolitik in der Transformation sollte diese Erkenntnisse berücksichtigen. Die Rahmenbedingungen für innovative, produktive und moderne Produktionsanlagen zu stärken, bedeutet im Ergebnis, gute Beschäftigungsverhältnisse aufzubauen. Dies zeigt sich in weit überdurchschnittlichen Löhnen und Gehältern und stabilen Sozialpartnerschaften. Für die pharmazeutische Industrie hat die Bundesregierung jüngst eine Pharmastrategie verabschiedet. Diese greift zentrale Aspekte für die Stärkung des Innovations- und Industriestandorts auf. Wichtig wird nun die Umsetzung und Ausgestaltung des Papiers, um im Standortwettbewerb der großen Wirtschaftsräume bestehen zu können.
Infobox
Die Informationen über die Qualität der Arbeit im europäischen Vergleich werden in regelmäßigen Abständen mit telefonischen Interviews erhoben durch die „European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions“ im Auftrag der Europäischen Kommission. Gesammelt werden Informationen über Arbeitsbedingungen, Beschäftigungsverhältnisse und sozioökonomische Trends in Europa. Die Umfragen erfassen beispielsweise Daten zur Arbeitszeit, Arbeitsbelastung, Arbeitsplatzsicherheit, beruflichen Weiterentwicklung und sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz.
Die Tarifbindung wird im Rahmen des IAB Betriebspanels erhoben. Das IAB-Betriebspanel ist eine jährliche Befragung deutscher Unternehmen. Es liefert Daten über betriebliche Strukturen, Beschäftigung und Arbeitsmarktveränderungen. Die hohe Beteiligungsquote gewährleistet zuverlässige Einblicke in den betrieblichen Alltag von Unternehmen.
Die Verdiensterhebung des Statistischen Bundesamtes (Destatis) ist eine umfassende Statistik, die detaillierte Informationen über Löhne und Gehälter sammelt. Sie liefert Einblicke in die Einkommensstrukturen nach Branchen, Berufen und Regionen. Die Daten dienen als Grundlage für die Analyse von Lohnentwicklungen, Geschlechterunterschieden und sozioökonomischen Trends und sind entscheidend für die Gestaltung von Arbeitsmarkt- und Lohnpolitik.
MacroScope Facts
Die Auftragseingänge der Pharmaindustrie sind ein Indikator über neu eingehende Bestellungen. Die heimischen Bestellungen stagnierten seit Jahren – bis im Zuge der Pandemie die Nachfrage nach Impfstoffen in die Höhe schoss. Dieser Schub hielt bis Anfang 2023, seitdem haben sich die Bestellungen normalisiert. Zuletzt stiegen sie indes wieder an – nicht zuletzt aufgrund des außergewöhnlich hohen Krankenstandes.
(1) Vgl. Hellwagner, T., Söhnlein, D., & Weber, E. (2023). Modeling migration dynamics in stochastic labor supply forecasting (No. 5/2023). IAB-Discussion Paper, online verfügbar.
(2) Vgl. DGB-Index Gute Arbeit (2023), Jahresbericht 2023 – Ergebnisse der Beschäftigtenbefragung zum DGB-Index Gute Arbeit
2023, online verfügbar.
(3) Vgl. Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD). (2017). OECD guidelines on measuring the quality
of the working environment, online verfügbar.
(4) Vgl. Statistisches Bundesamt (2024), Tarifbindung in der Europäischen Union, online verfügbar.
(5) Vgl. Frindert, J., Dribbusch, H., & Schulten, T. (2020). WSI-Arbeitskampfbilanz 2019: Rückgang des Arbeitskampfvolumens trotz
steigender Anzahl von Arbeitskonflikten (No. 57). WSI Report, online verfügbar.
(6) Schnabel, C. (2016). Gewerkschaften auf dem Rückzug? Mythen, Fakten und Herausforderungen. Wirtschaftsdienst, 96(6), 426-432, online verfügbar.
(7) Vgl. Fulda, C. D., & Schröder, C. (2023). Tarifbindung und Verteilung: Erkenntnisse aus der Fachliteratur (No. 32/2023). IW-Report, online verfügbar.
(8) Vgl. Michelsen, C. und Junker, S. (2023). Produktivität: Deutschlands Industrie rutscht ins internationale Mittelmaß,
MacroScope Pharma, Economic Policy Brief des vfa Nr. 06/23, online verfügbar.