#MacroScopePharma 12/24
Der Economic Policy Brief des vfa
Ökonomischer Fußabdruck: Die Pharmaindustrie hinterlässt die tiefsten Spuren
Deutschlands Industrie steckt in einer tiefen Transformationskrise. Wertschöpfungsstrukturen verändern sich. Das Geschäftsmodell des Industriestandorts erneuert sich grundlegend. Der ökonomische Fußabdruck der Branchen ist dabei unterschiedlich tief und für die Ausrichtung der Industriepolitik eine zentrale Größe. Gerade besonders innovative und produktive Branchen weisen eine große Strahlkraft in andere Wirtschaftszweige auf: Positive Entwicklungen in jenen Branchen haben einen großen gesamtwirtschaftlichen Ertrag. Die Pharmaindustrie sticht unter diesen hervor: Die Herstellung von Pharmazeutika im Wert von einem Euro regt weitere Produktion in Höhe von rund anderthalb Euro an – bei der Wertschöpfung sind es sogar zwei Euro.
Die deutsche Wirtschaft steht vor einem tiefgreifenden Wandel. Etablierte Branchen, teils mit hohem Vorleistungsbedarf und großem Energiehunger, sind stark gestiegenen Kosten, einem sich zuspitzenden Wettbewerb auf außereuropäischen Märkten und einer rasanten Technologieentwicklung ausgesetzt. Diese Herausforderungen bergen das Risiko, dass gewichtige Branchen mittelfristig weltweit Marktanteile verlieren. Dass sich der wichtige Index der Industrieproduktion (Abbildung 1, hellblaue Linie) seit 2018 im Sinkflug befindet, nährt zusätzlich Sorgen vor einer bereits einsetzenden Deindustrialisierung(1)
.
Ganz so dramatisch ist die Situation aber nicht: Der Produktionsindex betrachtet nur einen Ausschnitt wirtschaftlicher Aktivität, nämlich die Herstellung industrieller Güter. Umfassender bildet der Produktionswert (dunkelblaue Linie in der Abbildung) die Aktivitäten der Industrie ab – darin enthalten sind auch die Dienstleistungen der Industrie. Und dieser lag im vergangenen Jahr sogar höher als 2018. Dies bedeutet: Es werden zwar weniger Waren gefertigt, die industrielle Gesamtproduktion ist aber gestiegen, weil zunehmende Dienstleistungstätigkeiten die geringere industrielle Produktion überkompensiert haben.
Aussagen über strukturelle Verschiebungen lassen sich auch aus dem Vergleich von Produktions- und Wertschöpfungsentwicklung gewinnen.(2) Enteilt die Wertschöpfung der Produktion, ergibt sich rechnerisch eine steigende Wertschöpfungsquote. Dabei steigt diese Quote, wenn Unternehmen in der Breite ihre Wertschöpfungsquote steigern – das heißt, sie machen sich unabhängiger von Vorleistungen – oder wenn sich die Wirtschaftsaktivität hin zu wertschöpfungsstarken Branchen verlagert. Dies war jahrelang nicht zu beobachten – ein Zeichen für nur geringe Veränderungen in den Geschäftsmodellen. Im vergangenen Jahr hingegen hat die reale Wertschöpfung (hellblaue Linie) sichtbar stärker zugelegt als die Produktion (dunkelblau). Dies deutet eine Verschiebung zugunsten der Produkte und Branchen, deren Wertschöpfungstiefe größer ist, an.
Wissensgetriebener Strukturwandel beschleunigt sich
Der Wandel in der Industrie ist in den vergangenen Jahren aber vor allem durch die zunehmende Bedeutung von Dienstleistungen für die Industrieunternehmen charakterisiert (Auseinanderdriften der roten und dunkelblauen Linien). Diese Flankierung der eigentlichen Güterproduktion spricht für zunehmend komplexere Produktionsstrukturen: Im Jahr 2021 – dem aktuellen Datenstand – hat die Industrie ein Zehntel ihres Produktionswertes durch Dienstleistungen erbracht (s. auch weiter unten und Tabelle 2), drei Prozentpunkte mehr als im Jahr 2010 (Abbildung 2, Balken „Industrie“), und diese Verlagerung geht – neben vermehrten Handels- und Logistikaktivitäten – zur Hälfte auf die Unternehmensdienstleistungen zurück. Vor allem technische und ähnliche Untersuchen, Forschung und Entwicklung (F&E) sowie die Vermietung beweglicher Sachen haben diese Entwicklung getragen (blaue und grüne Balken in der Abbildung). Dabei ist die Pharmaindustrie ein wesentlicher Treiber dieser Entwicklung: In keiner anderen Branche hat der Dienstleistungsanteil mit zusätzlichen 13,6 Prozentpunkten so stark zugelegt. Ein Großteil geht auf Unternehmensdienstleistungen, darunter Innovationsaktivitäten, zurück. In der zweitplatzierten Branche – dem Fahrzeugbau beträgt der Gesamtzuwachs mit 5,3 Prozent nicht einmal die Hälfte.
Die Aktivitäten der Industrie entwickeln sich also hin zu innovativen Produkten, was wiederum von den ohnehin forschungsstarken Schlüsselindustrien getragen wird (Abbildung 3). Auch hier liegt die Pharmaindustrie mit rund zehn Prozent F&E-Anteil am Produktionswert deutlich vor den anderen Wirtschaftszweigen. Dies ist etwa das Dreifache des Industriedurchschnitts. Erst im Jahr 2021 gab es für den Aufwärtstrend im Bereich „Technische Untersuchen etc. und F&E“ einen Dämpfer, der wahrscheinlich durch die tiefen Einschnitte der Corona-Pandemie zu erklären ist und maßgeblich durch den Fahrzeugbau verursacht wurde.
Somit geht Veränderung mit innovativeren Produkten einher. Für diesen wissensgetriebenen Strukturwandel sind einige wenige Branchen in Deutschland zentral, weil sie überdurchschnittlich hohe Innovationskraft haben. Diese Schlüsselindustrien haben zudem eine besonders große Strahlkraft auf die übrige Wirtschaft.
Ökonomischer Fußabdruck misst die wirtschaftliche Bedeutung von Branchen
Wie stark eine Branche in andere Wirtschaftsbereiche hinein wirkt, wird durch den ökonomischen Fußabdruck erfasst (vgl. die Box auf S. 9). Dieser beschreibt die Produktions- und Wertschöpfungsketten eines Wirtschaftszweigs, ausgehend von seiner Kerntätigkeit. Dabei wird unterschieden nach den direkten und den indirekten Effekten der wirtschaftlichen Aktivität. Hinzu kommen die Nebentätigkeiten – also alle Dinge, die nicht der Kerntätigkeit zugerechnet werden.
Nach den jüngsten Daten zu diesen heimischen (nominalen) Produktions- und Lieferverflechtungen produzierte die deutsche Wirtschaft im Jahr 2021 Waren und Dienstleistungen im Gesamtwert von 6.812 Milliarden Euro (Tabelle 1; vgl. dort den Eintrag links oben). Wie in vielen fortgeschrittenen Volkswirtschaften haben die Dienstleistungsbranchen mit 58,8 Prozent den größten Teil beigesteuert (vgl. Zeile 1 in Tabelle 1). Der Anteil der erstellten Dienstleistungen lag mit 61,9 Prozent (vgl. Spalte 1 in Tabelle 2) sogar noch höher – Dienstleistungen wurden nämlich auch vom produzierenden Gewerbe (5,3 Prozent, Tabelle 1) erbracht, was (mit 8,1 Prozent, Tabelle 2) einen beträchtlichen Teil ihrer Tätigkeit ausmacht. In der Industrie im engeren Sinne (also dem produzierenden Gewerbe ohne Bauwirtschaft, Bergbau und Versorger) machten die Dienstleistungen sogar gut ein Zehntel (10,2 Prozent, Tabelle 2) aus.
Pharmazeutische Güter (Zeile 13) wurden im Wert von 42 Milliarden Euro (Spalte 1) hergestellt: zu einem kleinen Teil (0,7 Prozent, Spalte 5) in Betrieben, die ansonsten hauptsächlich Handel betreiben, der Rest von der Industrie (99,3 Prozent, Spalte 11) – von der pharmazeutischen Industrie selbst 88,4 Prozent (Spalte 13). Ein guter Teil stammt aus Betrieben mit schwerpunktmäßig chemischer Produktion (8,5 Prozent, Spalte 12) und weitere (wenn auch geringe) Mengen aus anderen Branchen.
Industrieunternehmen betreiben neben ihrer Kerntätigkeit – der Produktion von Gütern in ihrem Bereich – häufig eine Vielzahl an Nebentätigkeiten. Dazu zählen neben der Herstellung von Waren aus anderen Bereichen, die sie teils selbst im Produktionsprozess einsetzen, viele Dienstleistungen. Für die Pharmaindustrie trifft dies nicht zuletzt aufgrund ihrer Forschungsstärke in besonderem Maße zu: Nicht einmal ein Drittel des Produktionswertes entfiel im Jahr 2021 auf die Güterproduktion – hauptsächlich pharmazeutische (59,8 Prozent, Tabelle 2, Zeile 13) und daneben chemische Erzeugnisse (3,8 Prozent, Zeile 12). Hinzu kamen im beträchtlichen Umfang Unternehmensdienstleistungen (außer F&E: 8,9 Prozent, Zeile 6), zu denen etwa die operative Führung des Deutschlandgeschäfts zählt, hohe und gerade im Vergleich zu den meisten übrigen Industriebranchen deutlich höhere Anteile an F&E-Tätigkeiten (7,9 Prozent, Zeile 7) und Handelsaktivitäten (6,3 Prozent, Zeile 5).
Neben dem Kernbereich erhebliche weitere Aktivitäten der Pharmabranche
Aus dieser Produktionsstruktur ergibt sich zusammen mit der Vorleistungsstruktur der Input-Output-Verflechtungen der ökonomische Fußabdruck der Branchen. In der Pharmaindustrie fallen die zusätzlichen Impulse bei der eigentlichen Produktion besonders hoch aus (Abbildung 4): Nicht zuletzt, weil die Herstellung innovativer Arzneimittel in erheblichem Umfang mit Forschungsaktivitäten verbunden ist, geht die Produktion von Medikamenten im Wert von einem Euro mit fast anderthalb Euro Produktion durch die Nebentätigkeiten (0,67 Euro, Balken oberhalb des „Arzneimittel“-Balkens links in der Abbildung) zuzüglich der indirekten Produktion vorgelagerter Fertigungsstufen (0,74 Euro, rechts daneben; insgesamt 1,41 Euro) einher.
Noch größer ist die Strahlkraft bei der Betrachtung der Wertschöpfung: Ein Euro pharmazeutische Wertschöpfung führt zu einer zusätzlichen Wertschöpfung von zwei Euro (1,08 Euro direkt + (0,40 + 0,51) Euro indirekt, vgl. die beiden rechten Balken in der Abbildung). Dabei weist diese Ausstrahlwirkung einen klar ansteigenden Trend auf (Abbildung 5) und lag im Jahr 2020 sogar noch höher als zuletzt. Der Rücksetzer im Jahr 2021 ist wahrscheinlich auf die Verwerfungen der Corona-Pandemie zurückzuführen.
Pharma mit der größten Strahlkraft im Branchenvergleich
Die Pharmaindustrie ist im Vergleich mit den anderen Wirtschaftszweigen die Branche mit der größten Strahlkraft. Gemessen am Produktionswert liegt der Wirtschaftszweig an der Spitze aller Industrien Deutschlands (Abbildung 6, oben). Alle anderen Branchen liegen grob bei (die meisten unter) einem Euro zusätzlichem Produktionswert je Euro Produktionswert im Kernbereich.
Bei der Bruttowertschöpfung liegt die pharmazeutische Branche ebenfalls vorne (Abbildung 6, unten). Sie muss die beiden vordersten Plätze jedoch an die Mineralölindustrie und die Metallverarbeitung abgeben: Mit 5,57 zusätzlichen Euro weist die Mineralölbranche einen außergewöhnlich hohen Wert auf. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Branche besonders vorleistungsintensiv ist. Ein Euro Produktion dieser Branche erfordert 91 Cent an Vorleistungen, übrig bleiben lediglich neun Cent an Wertschöpfung (Wertschöpfungsquote: 9 Prozent). Umgekehrt fällt bei der Wertschöpfung eines Euros Produktion in Höhe von über elf Euro an, die entsprechend hohe Vorproduktion und letztlich auch Wertschöpfung mit sich bringt. Zum Vergleich: Die Wertschöpfungsquote in der Industrie ist (mit 33 Prozent fast viermal so hoch (ein Euro Wertschöpfung resultiert aus drei Euro Produktionswert). Abbildung 7 bestätigt diesen Effekt: Branchen mit geringer Wertschöpfungsquote (Punkte links) gehen tendenziell mit höheren zusätzlichen Wertschöpfungswerten (Punkte oben) einher (und umgekehrt; dies entspricht der fallenden Trendlinie). Branchen wie die Herstellung von Metallerzeugnissen haben zwar eine relativ hohe Wertschöpfungsquote (41 Prozent), aber (mit 71 Cent) eine geringe Ausstrahlwirkung. Hervor stechen Branchen rechts oberhalb der Trendlinie: Je weiter rechts sie liegen, desto mehr Wert schöpfen sie anteilig aus ihrer Produktion und je höher sie liegen, desto mehr zusätzliche Wertschöpfung regen sie durch ihre Kerntätigkeit an. Besonders gut ist das Verhältnis in der Pharmaindustrie: Bei einer Wertschöpfungsquote von 46 Prozent strahlt sie 1,99 Euro zusätzliche Wertschöpfung aus. Die Elektroindustrie mit einer annähernd gleichen Quote kommt dagegen nur auf zusätzliche 1,12 Euro (liegt aber ebenfalls rechts oberhalb der Trendlinie).
Schlüsselindustrien im Strukturwandel gezielt stärken
Der Strukturwandel in der deutschen Industrie ist in vollem Gange und setzt den Standort unter Druck. Dies macht klare wirtschaftspolitische Weichenstellungen notwendig. Neuwahlen und die Unsicherheit über den künftigen Kurs der Politik lasten auf den Unternehmen und bremsen die Erneuerung des Standorts. Das Gegenteil wäre derzeit aber wichtig: Deutliche Signale mit Blick auf die Unterstützung innovativer Geschäftsmodelle, Klarheit hinsichtlich der Entwicklung von Energiekosten und den Herausforderungen der Energiewende sowie starke Anreize, in die Modernisierung des Standorts zu investieren.
Die Parteien positionieren sich derzeit mit Blick auf die Neuwahlen Ende Februar. Dabei werden unterschiedliche Positionen mit Blick auf die Industriepolitik formuliert. Positiv ist, dass die meisten Parteien die Bedeutung von Hightech-Branchen für die Zukunft des Industriestandorts unterstreichen. Wenn aus diesen Bekenntnissen klare Weichenstellungen folgen, dann zahlt sich dies auch aus: Die Zahlen zum ökonomischen Fußabdruck zeigen, dass die Strahlkraft innovativer Branchen besonders groß ist und Verluste der Wertschöpfung an anderer Stelle kompensieren können. Hierfür braucht es auch die richtigen Weichenstellungen auf dem Arbeitsmarkt: Denn der Fachkräftemangel bremst die Entwicklung gerade im Bereich von Forschung und Entwicklung und in der Hightechproduktion aus. Auch um Menschen neue Arbeitsmarktperspektiven zu eröffnen, ist deshalb ein Fokus auf Qualifikation und Quereinstieg notwendig.
Daten und Methoden
Die Herstellung von Arzneimitteln erfordert zahlreiche Vorleistungen. So wurden dabei, laut der jüngsten Input-Output-Tabellen des Statistischen Bundesamtes, im Jahr 2021 u. a. chemische Produkte für 4,1 Milliarden Euro und Großhandelsdienstleistungen in Höhe von 1,6 Milliarden Euro von heimischen Zulieferern verwendet. Diese Vorleistungen sind gleichzeitig Produktion der vorgelagerten Branchen, also der chemischen Industrie, des Handelssektors und weiterer Branchen. Und diese benötigen wiederum selbst Vorleistungen, um ihre Leistungen zu erstellen. Alle vorgelagerten Waren und Dienstleistungen zusammengenommen müssen erbracht werden, damit Arzneimittel hergestellt werden können, und ihre Summe wird als ökonomischer Fußabdruck bezeichnet – im Beispiel der Fußabdruck der Produktion pharmazeutischer Erzeugnisse. Um dieser Kerntätigkeit nachzugehen, führt die Pharmaindustrie indes eine Reihe weiterer Tätigkeiten aus (vgl. Tabelle 2), etwa Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten in erheblichen Umfang. Alles in allem ist (etwa für die Pharmaindustrie) auch der Fußabdruck zu berücksichtigen, der bei der Erbringung weiterer erforderlicher Tätigkeiten entsteht.
MacroScope Facts
Die Inzidenz, die das Robert-Koch-Institut im Rahmen seiner GrippeWeb-Seite veröffentlicht, gibt die Zahl von grippeähnlichen und akuten Atemwegserkrankungen an. Zur besseren Vergleichbarkeit werden diese Zahlen hier ins Verhältnis zum Durchschnitt der Jahre 2012 – 19 gesetzt. Die Werte für 2023 (114 bzw. 116) bedeuten, dass im vergangenen Jahr 14 bzw. 16 Prozent mehr Krankheitsfälle erfasst wurden als im Durchschnitt. Da diese Zahlen direkt (und ohne Bezug zu einer Krankschreibung) vom RKI erhoben werden, sind sie nicht durch neue Regelungen bei der Krankschreibung beeinflusst. Für dieses Jahr fehlt noch der „Grippemonat“ Dezember, der den Jahresdurchschnitt noch anheben dürfte.
Fußnoten:
(1) Falck, O., & Pfaffl, C. (2022). Die Deindustrialisierung Deutschlands: berechtigte Sorge oder German Angst? Wirtschaftsdienst, 102(12), 936 – 940, online verfügbar.
(2) Lehmann, R., & Wollmershäuser, T. (2024). Struktureller Wandel im Verarbeitenden Gewerbe: Produktion unterzeichnet Bruttowertschöpfung. ifo Schnelldienst, 77(02), 55 – 60, online verfügbar.