#MacroScopePharma 05/24
Der Economic Policy Brief des vfa
Industriebeschäftigung: Der Strukturwandel ist eine Chance
Die Industrie steht unter Druck. Seit mehr als fünf Jahren wird in diesem wichtigen Kern der deutschen Volkswirtschaft Beschäftigung abgebaut. Dies betrifft vor allem die Automobil- und die energieintensiven Branchen. Die Gründe hierfür sind tiefgreifende technologische Veränderungen und große Herausforderungen in der Energieversorgung. Gleichzeitig wird in anderen Industriesektoren Beschäftigung aufgebaut – vor allem dort, wo die Produktivität größer und die Löhne überdurchschnittlich ausfallen. Der Blick in die Vergangenheit zeigt: Gesamtwirtschaftlich hat Strukturwandel zu höherem Wohlstand geführt, wenn er aktiv begleitet wird.Schwankungen in der Wirtschaftsleistung und in der Beschäftigung treten wegen konjunktureller Krisen oder struktureller Veränderungen auf. Während Konjunkturkrisen meist zu bekannten Wachstumspfaden zurückführen, folgen strukturellen Veränderungsprozessen grundlegende Anpassungen in der Wirtschaft. Auslöser können lange Technologiezyklen, veränderte Verfügbarkeiten und Preise von Rohstoffen oder demografische Prozesse sein, die die Verfügbarkeit von Fachkräften verändern. In strukturellen Prozessen liegt meist aber eine gesamtwirtschaftliche Chance – dies zeigt der Blick auf die Beschäftigungsentwicklung in der Industrie. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass der Wandel politisch aktiv begleitet wird.(1)
Deutschland ist derzeit sowohl mit konjunkturellen als auch strukturellen Verwerfungen konfrontiert. Energiekrise, Inflation und Zinssteigerungen belasten die Wirtschaft erheblich. Sie drücken auf die Nachfrage im Land und nach den sonst begehrten Gütern der deutschen Exportwirtschaft. Dies zeigt sich deutlich in der Beschäftigtenentwicklung der Industrie. Seit dem Jahr 2019 ist deren Zahl um 250.000 gesunken (Abbildung 2). Dieser Befund nährt die Sorge vor einer einsetzenden Deindustrialisierung.(2)
Stabile Industriebeschäftigung seit den 1990-er Jahren
Allerdings zeigt ein Blick auf die Zeit nach der Wiedervereinigung, dass die Anpassungsprozesse unter dem Strich vorteilhaft sein können. Selbst wenn die Zahl der Beschäftigten in einigen Sektoren sinkt, führt die Verschiebung der Beschäftigung in produktivere Sektoren meist dazu, dass die insgesamt gezahlten Gehälter steigen.
So kam es in den 1990-er Jahren zunächst zu einem Abbau von Produktionskapazitäten in den neuen Bundesländern. In der Folge hat sich Deutschland aber seinen industriellen Kern bewahrt.(3)
Die Industriebeschäftigung ist, von konjunkturellen Schwankungen abgesehen, stabil geblieben: 1996 waren 7,5 Millionen Menschen in der Industrie tätig, genauso viele wie auch im Jahr 2019 (Abbildung 1).
Innerhalb der Industrie gab es allerdings erhebliche Verschiebungen. Die vergangenen Jahrzehnte waren stets vom Wandel geprägt, ohne dass Deutschland dabei an industrieller Stärke eingebüßt hat. Industriezweige, die im internationalen Wettbewerb zurückfielen, haben an Bedeutung verloren. Gleichzeitig blühten andere Branchen auf. Seit den 1990-er Jahren waren es vor allem der Maschinenbau, die Automobilbranche, die Metallverarbeitung aber auch die Pharmaindustrie, die den Beschäftigungsverlust in anderen Bereichen kompensierten (Abbildung 2).
So haben die Holz-/Papierindustrie sowie die Textilindustrie zwischen 1996 und 2019 zusammengenommen 400.000 Stellen abgebaut. Der Maschinen-, der Fahrzeugbau und die Lebensmittelindustrie haben in dieser Größenordnung Arbeitsplätze geschaffen (vgl. die ausgewählten Zahlen in Abbildung 2 zum Jahr 2019). Da die durchschnittlichen Löhne in den Wachstumsbranchen deutlich über dem der schrumpfenden Wirtschaftszweige liegen, kam es gesamtwirtschaftlich betrachtet zu Gewinnen bei den Arbeitnehmer:innen.
Neuer Anpassungszyklus seit dem Jahr 2019
Seit dem Jahr 2019 zeichnet sich ein neuer Zyklus ab. Auch in den Branchen, die in den 1990-er und 2000-er-Jahren die Beschäftigung gestützt haben, sind die Arbeitnehmer:innenzahlen deutlich unter Druck. Die immer wieder vermeldeten Rekorde bei der Beschäftigung sind allein durch den Dienstleistungssektor getrieben.
Dabei war die Industrie in den Jahren nach der Finanzkrise zunächst sehr viel einstellungsfreudiger als die Dienstleister (Abbildung 3). Endgültig abgeschlossen war der Boom in der Industriebeschäftigung zu Jahresbeginn 2019. Die Coronakrise hat danach ver- schärft, was ohnehin im (Rückwärts-)Gang war: Die Erwerbstätigenzahlen sanken bis Anfang des Jahres 2021 sichtbar. Insgesamt wurden rund 300.000 Stellen bis in das Jahr 2021 gestrichen. Seither stagniert die Beschäftigtenzahl in der Industrie nahezu.
Nach allgemeiner Einschätzung (4)
dürften im Jahr 2024 trotz konjunktureller Schwäche knapp 200.000 neue Stellen geschaffen werden – ein Großteil davon weiterhin im Dienstleistungssektor. Auch wegen der demografischen Entwicklung kommt dieser jahrelange Aufwärtstrend jedoch zum Erliegen. Aus dem Fachkräftemangel ist längst ein allgemeiner Arbeitskräftemangel geworden. Wegen der alternden Erwerbsbevölkerung wird die Zahl der Beschäftigten fortan sinken. Das heißt: Ein Beschäftigungsaufbau in einer Branche geht zulasten von Abbau andernorts.
Die bereits beobachtbare Drift zwischen den Branchen dürfte sich deshalb in den kommenden Jahren verstärken.
Industrie: Verschiebungen sichtbar – Ursachen unterschiedlich
In der Industrie gibt es keinen breiten Trend zum Beschäftigungsabbau. Dieser konzentriert sich zum einen auf einige Branchen, die konjunkturelle Schwierigkeiten zu meistern haben, zum anderen vielmehr auf Wirtschaftszweige, die einem tiefgreifenden Technologiewandel ausgesetzt sind. Nur wenige Branchen haben auch während der jüngsten Krisen beim Beschäftigungsaufbau Kurs gehalten (Abbildung 4).
Die stärksten Beschäftigungsverluste zeigen sich in der Automobilbranche. Dort waren in der Spitze (Juli 2018) rund 842.000 Menschen angestellt. Bis Januar 2022 sank die Zahl um 70.000 Beschäftigte und hat sich seither nur etwas um 10.000 Personen erholt.
Die energieintensiven Branchen spüren die Folgen der Energiekrise – sie müssen sich an dauerhaft gestiegene Energiekosten anpassen. Seit Herbst 2022 ist auch deren Beschäftigtenzahl gesunken. Mit der erwarteten Erholung der Produktion in diesen Bereichen dürfte auch die Zahl der Arbeitnehmer:innen wieder etwas zulegen. Auf das Vorkrisenniveau dürften sie aber in absehbarer Zeit nicht zurückkehren.
Die meisten anderen Branchen haben ebenfalls Beschäftigung abgebaut – in erster Linie aber aus konjunkturellen Gründen. Vielfach dürfte es sich dort also um vorübergehende Probleme handeln, wie einer schwachen globalen Nachfrage und den mittlerweile weitestgehend behobenen Lieferengpässen.
Der Maschinenbau und die Elektroindustrie, die von der weltweiten Investitionstätigkeit abhängen, hatten sich überdurchschnittlich rasch erholt. Im Umfeld hoher Zinsen, gestiegener geopolitscher Unsicherheit und der damit einhergehenden Investitionszurückhaltung haben sie aber zuletzt wieder Schwung verloren. Prognosen zufolge dürften sich die zugrundeliegenden Probleme ab der zweiten Jahreshälfte dieses Jahres allmählich auflösen.
Ein Großteil des Beschäftigtenabbaus seit dem Jahr 2019 dürfte unter dem Strich struktureller Natur sein. Diese Verluste wiegen schwer, da sie auch in vor- und nachgelagerten Sektoren zu Anpassungen führen. Allerdings gibt es Gegengewichte, die auch in der Krise stabil und dank ihrer Innovationskraft international wettbewerbsfähig sind. Dazu zählt die Pharmaindustrie. Sie steigert die Erwerbstätigenzahlen kontinuierlich. Abgesehen von Sondereffekten (vgl. die Box auf Seite 7f) ist die Zahl der dort Beschäftigten um jahresdurchschnittlich mehr als zwei Prozent gestiegen – dreimal so schnell wie in der Gesamtwirtschaft. Selbst im Pandemiejahr 2020, in dem die gesamtdeutsche Beschäftigtenzahl um 0,6 Prozent sank, legte sie in der Pharmaindustrie leicht um
0,3 Prozent zu. Insgesamt zeigt sich eine Verschiebung hin zu produktiveren Branchen mit höheren Löhnen.
Pharma kompensiert auch dank überdurchschnittlicher Löhne
Der Beschäftigungsaufbau in Schlüsselindustrien wie der Pharmabranche kann die Verluste in anderen Bereichen bislang nicht vollständig kompensieren. Die derzeitige Beschäftigungsverlagerung folgt dabei einem Muster: Die Zahl der Arbeitnehmer:innen steigt vor allem dort, wo die durchschnittlichen Gehälter hoch sind. Die Höchsten beziehen Beschäftigte in der Rohstoffverarbeitung, gefolgt von denen in der Fahrzeug- bzw. Pharmabranche (Abbildung 5). Dies ist Ausdruck dessen, dass die Industrie vor allem in den produktiven Bereichen wettbewerbsfähig ist.
Von diesem Gleichlauf gibt es Abweichungen: In der Lebensmittelindustrie legte die Beschäftigung jüngst deutlich zu, obgleich die Branche im Mittel die geringsten Gehälter zahlt. Mit dem Maschinen- wie auch dem Fahrzeugbau haben zudem zwei Branchen mit hohen Einkommen zuletzt Arbeitsplätze abgebaut. Das grundsätzliche Muster bleibt aber klar erkennbar. In den vergangenen fünf Jahren sind die Lohneinkommen in der Pharma-, Elektro-, Lebens- mittel- und rohstoffverarbeitenden Industrie um annähernd ein Fünftel gestiegen, während in vielen anderen Branchen kaum Zuwächse zu verbuchen sind (Abbildung 6). In erster Linie liegt dies aber nicht an Lohnsteigerungen, sondern an der Verlagerung der Beschäftigung. Dies zeigen die dunklen Balken in Abbildung 6.
Dadurch konnte der Rückgang der Beschäftigung durch die Schaffung höher bezahlter Stellen zum Teil aufgefangen werden. Noch reicht dies nicht, um den Beschäftigungseffekt vollständig auszugleichen. Die Entwicklung ist aber angelegt. So hat der kräftige Stellenabbau in der Automobilbranche um 54.000 zwischen 2019 und 2023 zu Einkommensverlusten in Höhe von gut vier Milliarden Euro geführt. Der Stellenaufbau in der Pharmaindustrie allein hat rund ein Viertel davon aufgefangen (Abbildung 7; dies entspricht den blauen (Kfz) bzw. roten (Pharma) Balken im Jahr 2023), nicht zuletzt, weil die Branche ein hohes Jahreseinkommen zahlt.
Während Teile der Einkommenseinbußen in der Automobil- und auch den energieintensiven Branchen dauerhaft sein könnten, sind die Aussichten für die zinsreagiblen Branchen besser: Sie leiden zwar derzeit besonders unter der Konjunkturflaute, mittelfristig dürfte sich die Situation jedoch aufhellen und auch die Einkommensentwicklung ist – nach den Rückgängen der Jahre 2020 - 22 – in diesen Branchen bereits im vergangenen Jahr ins Positive gedreht (vgl. die dunkelblauen Balken).
Fazit: Strukturwandel arbeitsmarktpolitisch begleiten
Die Industrie entwickelt sich in ihrer Struktur fortwährend. Der Wandel hierzulande war im Vergleich mit anderen Industrienationen wahrscheinlich
ein zentraler Schlüssel dafür, dass der Wertschöpfungsanteil des industriellen Sektors weitgehend stabil ist. Die Innovationskraft und die internen Verschiebungen zu immer höherwertigen Produkten und produktiveren Sektoren hat im Ergebnis zu einer Steigerung der Wertschöpfung und einer einkommensseitigen Verbesserung aller Industriebeschäftigten geführt.
Auch die jetzigen Herausforderungen der Industrie sollten als eine Chance verstanden werden, sich an die aktuellen und kommenden Herausforderungen anzupassen. Ein zentraler Aspekt ist die demografische Entwicklung: Die Zahl der Erwerbspersonen dürfte bereits im kommenden Jahr den Höhepunkt überschreiten und im Folgenden Jahr für Jahr deutlich sinken. Künftig wird der Beschäftigungsaufbau in einer Branche nur auf Kosten von sinkenden Beschäftigtenzahlen in anderen Branchen möglich sein. Um gesamtwirtschaftliche Einkommenseinbußen zu vermeiden, müssen Arbeitsplätze in produktivere Bereiche verlagert werden.
Es kommt also darauf an, die Arbeitskräfte in die richtigen Bereiche zu lenken. Denn selbst bei sinken- den Beschäftigtenzahlen können die in der Industrie erzielten Einkommen weiter kräftig zulegen – dann nämlich, wenn die Beschäftigung von gering entlohnten Bereichen in diejenigen wandert, die höhere Gehälter zahlen (können). Dieser Wandel erfordert zweierlei: Erstens ist Optimismus hinsichtlich der Chancen einer Veränderung gefragt. Zweitens bedarf es politischer Gestaltung. Für die Wettbewerbsfähigkeit braucht es Investitionen in modernste Maschinen und Anlagen und in die Köpfe des Landes. Gerade
die Transformation der Arbeitswelt erfordert erheblichen Aufwand: Damit Beschäftigte zwischen den Sektoren wechseln können, müssen sie fit gemacht werden für die neuen Anforderungen. Lebenslanges Lernen wird deshalb umso wichtiger.
Für die pharmazeutische Industrie und die gesamte Gesundheitswirtschaft ist der Fachkräftemangel eine zentrale Herausforderung. Vor allem in der Produktion sind weiterhin viele Stellen unbesetzt. Würde der Fachkräftemangel gelöst, wäre ein deutlich größeres Branchenwachstum möglich – dies zeigt eine aktuelle Studie für die industrielle Gesundheitswirtschaft.(5)
Auch sind die Potenziale erheblich, Beschäftigte aus anderen Branchen aufzufangen. Hierfür sind allerdings strukturierte Weiterbildungsangebote und eine zukunftsorientierte Industriepolitik notwendig. Die Industriestrategie der Bundesregierung und insbesondere die Pharmastrategie bilden hierfür eine gute Grundlage. Ihre Umsetzung ist daher umso dringlicher.
Spotlight:
Datendschungel Beschäftigung
Die Zahl der Pharmabeschäftigten fällt je nach Quelle anders aus – besonders im Niveau fallen große Diskrepanzen ins Auge (Abbildung Box 1). Und auch wenn sich die Zahlen häufig im Gleichschritt entwickeln – aufgrund der abweichenden Methodik verschieben wirtschaftliche Entwicklungen die Zahlen mitunter gar in verschiedene Richtungen. Im Folgenden werden die zugrunde- liegenden Konzepte skizziert und diese anhand eines Beispiels veranschaulicht.
Beschäftigtenzahlen unterscheiden sich zum einen in der Art, wie sie erhoben werden: Um den Aufwand für die Unternehmen möglichst gering zu halten, sind nur Betriebe mit mindestens
50 Beschäftigten zu monatlichen Meldungen verpflichtet; da diese Zahl regelmäßig und zeitnah im Rahmen eines Monatsberichtes vorliegt, fällt ihr große Beachtung zu (blau gestrichelte Linie in der Abbildung). Für einen Jahresbericht wird zudem einmal im Jahr die Mitarbeiterzahl in kleineren Betrieben (ab 20 Beschäftigten) erhoben – für die deutsche Pharmaindustrie handelt es sich um rund
3.500 Personen (die durchgezogene blaue Linie ergänzt die gestrichelte Linie um diese Personen).
Zum anderen wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Unternehmen keine homogenen Produktionseinheiten sind, sondern viele Tätigkeiten parallel abwickeln: Pharmakonzerne haben neben Produktionsbetrieben für die pharmazeutischen Erzeugnisse häufig etwa Vertriebsstätten oder Forschungszentren, die für sich genommen anderen Wirtschaftszweigen angehören. Deshalb macht
es einen Unterschied, ob das Unternehmen(6)
in seiner Gesamtheit betrachtet wird, also etwa auch die in den Verwaltungs- und Vertriebsabteilungen Tätigen einbezieht, oder die Betriebe im Einzelnen. Diese unternehmensbasierte Zahl wird in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) verwendet, die Grundlage für Konjunkturprognosen sind und häufig für internationale Vergleiche herangezogen werden; derzeit liegt sie allerdings nur bis 2021 vor (grüne Linie).
Ebenfalls den Blick auf die Unternehmensgesamtheit werfen die Unternehmensstrukturstatistiken (orange Linie); dementsprechend decken sie sich bis 2017 weitestgehend mit den VGR-Zahlen.
Für die Zahlen ab 2018 wird eine neue Unternehmens-Definition von Eurostat umgesetzt, die u. a. Unternehmensverflechtungen (etwa anteilig gehaltene Betriebe) anders behandelt.(7)
Zahlen für frühere Jahre können zwar aus vergangenen Veröffentlichungen (wie in der Abbildung) ergänzend dargestellt werden, durch den Methodenwechsel tritt aber ein Bruch auf, der nicht mit einem tatsächlichen Beschäftigungsanstieg verwechselt werden darf.
Zu guter Letzt gibt es mehrere Kriterien zur Einteilung in einen Wirtschaftszweig: Meist wird ein Betrieb dem Wirtschaftszweig zugeordnet, in dem er die größte Wertschöpfung erwirtschaftet, aber auch die entsprechende Mitarbeiterzahl wird für die Zuordnung verwendet – etwa von der Bundesagentur für Arbeit beim Ausweis der sozialversicherungspflichtig sowie geringfügig Beschäftigten (rote Linie).
Ein Beispiel
Die wichtigsten Ursachen dieser Diskrepanzen sollen anhand eines Beispiels mit zwei Unternehmen illustriert werden. Abbildung Box 2 stellt deren Struktur als Verbund von (zwei bzw. drei) Betrieben dar, die pharmazeutische und/oder chemische Produkte herstellen. Die Betriebe werden symbolisiert durch ihre Beschäftigten und deren Wertschöpfung; Mitarbeiter:innen in der Pharmaproduktion und deren Wertschöpfung sind blau hervorgehoben, diejenigen in der Chemieproduktion rot. Die Auswirkungen der neuen EU- Unternehmens-Definition kommen in dem Beispiel nicht zum Tragen.
Betrieb A ist ein reiner Pharma-Produktionsstandort mit 100 Mitarbeiter:innen, die 8 Millionen Euro Wertschöpfung erwirtschaften; umgekehrt ist Betrieb B ein reiner Chemiebetrieb und analog verhält es sich mit Betrieben C und D. In Betrieb E arbeiten 40 Personen in der Pharma-Fertigung und erwirtschaften 4 Millionen Euro Wertschöpfung, 20 Personen erzielen in der Chemie-Fertigung eine (höhere) Wertschöpfung von 6 Millionen Euro.
Zählt man alle in der Pharma-Fertigung tätigen Personen, ergeben sich 160 Mitarbeiter:innen (100 in Betrieb A, 20 in Betrieb C und 40 in Betrieb E). Wenn alle Informationen auf dem Tisch lägen, wäre dies die zutreffendste Zahl der Pharmabeschäftigten. Um die Nachweispflichten nicht ausufern zu lassen, muss Betrieb E aber nicht die detaillierte Aufgliederung seiner Belegschaft melden, sondern nur die Gesamtzahl; zu klären ist zudem, ob diese dann zum Pharma- oder Chemiebereich gerechnet wird.
Für den Monatsbericht ist die größte Wertschöpfung ausschlaggebend – Betrieb E ist demnach ein Chemiebetrieb mit 60 Mitarbeiter:innen. Betrieb C macht als Betrieb mit nur 20 Beschäftigten keine monatliche Meldung. Der Monatsbericht weist somit nur die 100 Pharmabeschäftigten aus Betrieb A aus. Im Jahresbericht kommen die im Betrieb C Tätigen hinzu: Es gibt 120 Pharmabeschäftigte in Betrieben mit mindestens 20 Beschäftigten.
Die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen betrachten die beiden Unternehmen: Da Betriebe A und B zusammen 20 Millionen Euro Wertschöpfung erwirtschaften und mit 12 Millionen Euro der größte Teil aus der Chemie-Fertigung stammt, ist der Verbund ein Chemie-Unternehmen. Die 100 in der Pharma-Fertigung Tätigen in Betrieb A werden in dieser Abgrenzung also nicht zu den Pharmabeschäftigten gezählt. Da Betriebe C, D und E zusammen ihre Wertschöpfung schwerpunktmäßig mit Pharmazeutika erzielen (5 Millionen Euro in Betrieb C plus 4 Millionen in Betrieb E, von insgesamt 16 Millionen Euro Wertschöpfung), ist ihr Mutterkonzern ein Pharma-Unternehmen mit 150 Pharmabeschäftigten; diese umfassen auch die in der Chemie-Produktion Tätigen aus Betrieb D.
Für die Bestimmung der sozial- und geringfügig Beschäftigten erscheint Betrieb E in anderem Licht: Da die Beschäftigtenzahl ausschlaggebend ist, ist es ein Pharmabetrieb; alles in allem gibt es in den Betrieben 180 sozialversicherungs- pflichtig oder geringfügig Beschäftigte in der Pharma-Fertigung (100 in Betrieb A, 20 in Betrieb C und 60 in Betrieb E).
All dies ist eine Momentaufnahme und Änderungen wirken sich auf die Beschäftigungszahlen unterschiedlich aus. Werden beispielsweise im Betrieb D 50 Mitarbeiter:innen entlassen, reduziert sich auf Unternehmensebene die Zahl der Pharmabeschäftigten auf 100, während sich auf Betriebsebene nichts ändert – Betrieb D ist schließlich kein Pharmabetrieb. Auch in den amtlich ausgewiesenen Zahlen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (vgl. Abbildung Box 1) sinkt die Beschäftigung beispielsweise im Jahr 2021, während die auf Betriebsebene erhobenen Zahlen steigen; ob sich eine dem Beispiel analoge Entwicklung dahinter verbirgt bleibt mangels weiterer Informationen aber Spekulation.
Auswirkungen von Schwerpunktverlagerungen
Was passiert, wenn die Pharma-Wertschöpfung im Betrieb E relativ stark zulegt und künftig den Schwerpunkt der Betriebstätigkeit ausmacht? Für im (Monats- und) Jahresbericht ausgewiesene Zahlen würden die 60 bisher einem anderen Wirtschaftszweig zugeschlagenen Arbeitsplätze fortan zur Pharmabeschäftigung beitragen; obwohl es keine Einstellungen gegeben hat, würde die Pharmabeschäftigung von (100 bzw.) 120 auf (160 bzw.) 180 steigen; in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen bliebe die (unternehmensbasierte gemessene) Zahl unverändert bei 150.
Solche sogenannten Schwerpunktverlagerungen prüft das Statistische Bundesamt fortwährend und passt jeweils zum Jahresbeginn die Beschäftigtenzahlen daran an. Dadurch können sich im Januar Sprünge ergeben, die für die Pharmaindustrie relevant sind: Einerseits sind nicht wenige Betriebe der Branche neben der Herstellung von Pharmazeutika in erheblichem Maß in verwandten Bereichen tätig, etwa der Fertigung chemischer Produkte, so dass es häufig zu entsprechenden Schwerpunktverlagerungen kommt. Andererseits weist die Branche eine Größe auf, bei der die Zu- und Abwanderung einzelner Betriebe deutlich auf die Gesamtbeschäftigung durchschlägt. So führte diese Neuzuordnung einiger Betriebe im Januar 2020 zu einer Verringerung der Pharmabeschäftigung um rund 6.700 Personen (vgl. Abbildung Box 3). Entlassungen – wie es der deutliche Rückgang um fast sechs Prozent auf den ersten Blick nahelegt – hat es aber nicht gegeben (vgl. die durchgezogene Linie in der Abbildung). Geht es – wie im vorliegenden Bericht – weniger um die Zusammensetzung der Branche, sondern vor allem um Stellenaufbau, ist es sinnvoll, die durch Schwerpunktverlagerungen verursachten Sprünge auszuklammern (vgl. die durchgezogene Linie in Abbildung Box 3)(8)
. Das Beschäftigungsniveau ist dadurch schwieriger zu interpretieren, die Entwicklung bildet jedoch das Einstellungsverhalten der Unternehmen sinnvoll ab.
MacroScope Facts
Die Auftragsbestände der Pharmaunternehmen hatten sich nach den coronabedingten Spitzen der Jahre 2021/22 normalisiert. Die Bestände aus ausländischen Bestellungen halten sich seitdem stabil, aus dem Inland dagegen füllen sich die Auftragsbücher mehr und mehr.
(1) Vgl. SVR Wirtschaft (2022), Energiekrise solidarisch Bewältigen, neue Realität gestalten, Jahresgutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2022/23, online verfügbar.
(2) Hüther, Michael, et al. (2023): Deindustrialisierung: Schreckgespenst oder notwendiger Schritt im Strukturwandel der deutschen Wirtschaft?, ifo Schnelldienst 76.03, S 1 – 30, online verfügbar.
(3) Seit 1996 trägt das produzierende Gewerbe (ohne die Bauwirtschaft) rund ein Viertel zur Wirtschaftsleistung bei. Seit dem Jahr 2020 ist dieser Anteil geringer, was vor allem am verarbeitenden Gewerbe (den „Industriebranchen“) liegt, während die Energieversorger etwas zugelegt haben.
(4) Vgl. die Frühjahrsprojektion der Bundesregierung, online verfügbar; die Gemeinschaftsdiagnose der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute, online verfügbar; Michelsen, C. und Junker, S. (2024). Frühjahrsprognose: Warten auf den Aufschwung, MacroScope Pharma, Economic Policy Brief des vfa Nr. 04/24, online verfügbar.
(5) Wifor und IGES (2023): Wachstumspotenziale der industriellen Gesundheitswirtschaft, Studie im Auftrag des BDI, online verfügbar.
(6) Ein Unternehmen wird als kleinste rechtlich selbständige Einheit, die aus handels- und/oder steuerrechtlichen Gründen Bücher führt und bilanziert, verstanden, ein Betrieb als eine örtlich abgegrenzte Produktionseinheit einschließlich der in seiner unmittelbaren Umgebung liegenden und von ihm abhängigen Einheiten.
(7) Jung, S., Kaus, W. (2020): „Unternehmensstrukturstatistiken und Statistik für kleine und mittlere Unternehmen nach dem EU-Unternehmensbegriff", Wirtschaft und Statistik 2020#06, Statistisches Bundesamt, online verfügbar.
(8) Zudem kam es im April 2023 zu einem Sprung um 5.262 Personen. Neben der Eröffnung eines neuen Standortes, bei dem wohl rund 800 neue Stellen geschaffen wurden, kam es innerhalb eines Pharmakonzerns zu Umstrukturierungen. Dadurch werden seit- dem zahlreiche Beschäftigte aus einem Tochterbetrieb, der zuvor einem anderen Wirtschaftszweig zugeordnet war, gemeinsam mit einer Produktionsstätte als Pharmabeschäftigte gezählt. Da es sich auch hierbei nicht um Einstellungen handelt, werden diese (unterstellt 4.200) Personen ebenfalls ausgeklammert (vgl. den grünen Pfeil).