#MacroScopePharma 06/22
Der Economic Policy Brief des vfa
Geringe Investitionen belasten Deutschlands Wachstum
Der anstehende Wandel der industriellen Wertschöpfung erfordert massive Investitionen in moderne Produktionsanlagen und energieeffiziente Infrastruktur. Dabei hat Deutschland schon jetzt Nachholbedarf. In den vergangenen Jahren wurde zu wenig investiert. Die Ursachen für die Schwäche sind unter anderem hausgemacht: Falsche politische Weichenstellungen haben in der pharmazeutischen Industrie höhere Investitionen verhindert.Geringe Investitionen schwächen den Wirtschaftsstandort
Deutschland investiert seit Jahren zu wenig in seine Infrastruktur und die Modernisierung des industriellen Kapitalstocks.(1) Im Vergleich mit anderen Industrieländern sind vor allem die Jahre nach der Jahrtausendwende durch eine niedrige Investitionstätigkeit geprägt (Abbildung 1). Während Deutschland zu Beginn der 1970er-Jahre mehr als 30 Prozent seiner Wirtschaftsleistung in neue Maschinen, Anlagen, Bauten und geistiges Eigentum investierte, fiel diese Quote Mitte der 2000er Jahre unter die Marke von 20 Prozent.
Die Folgen machen sich unmittelbar in einem schwächeren Wachstum bemerkbar: einerseits, weil weniger Anlagen für die Produktion zur Verfügung stehen, andererseits, weil der vorhandene Kapitalstock an Modernität verliert – Maschinen, Anlagen und technisches Wissen werden international weniger konkurrenzfähig.(2)
Angesichts der alternden Bevölkerung, die an Produktivität einbüßt und der künftig immer geringer werdenden Zahl erwerbstätiger Menschen sind die schwachen Investitionen der Vergangenheit in zweierlei Hinsicht ein Problem: Fehlende Investitionen der vergangenen Jahre müssen aufgeholt und die demografische Lücke mit zusätzlichen Investitionen geschlossen werden, wenn das Wohlstandsniveau hierzulande gehalten werden soll.
Dabei sind es vor allem Investitionen in neue Maschinen und Anlagen, deren Anteil in den vergangenen Jahren deutschlandweit immer weiter abgesackt ist (Abbildung 2). Der Anteil sank von knapp zehn Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt zu Beginn der 1990er-Jahre auf zuletzt nur noch gut sechs Prozent im Jahr 2021. Dies wurde zwar in Teilen durch höhere Investitionen in Innovationen ausgeglichen – ihr Anteil stieg von zwei Prozent zu Beginn der 1990er-Jahre auf nun gut drei Prozent. Den Rückgang der Aufwendungen für neue Maschinen und Anlagen konnte diese Entwicklung allerdings nicht kompensieren.
Im Ergebnis hat sich das Nettoanlagevermögen der deutschen Wirtschaft in den vergangenen 20 Jahren wenig vorteilhaft entwickelt und zudem erheblich an Modernität verloren.(3) Die Gründe hierfür sind vielfältig. So haben in den vergangenen 15 Jahren immer wieder schwere wirtschaftliche Krisen für Verunsicherung bei den Unternehmen gesorgt. Auf die Weltfinanzkrise folgte die Eurokrise. Der Brexit hat das europäische Gefüge infrage gestellt – und die „America First“-Politik des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump die Welthandelsordnung. Darauf folgten die Corona-Krise und jüngst der Krieg in der Ukraine. All dies erklärt eine global geringe Investitionsdynamik – nicht aber, dass in Deutschland speziell geringere Investitionen getätigt wurden.
Schlanker Staat – geringere private Investitionen
Eine deutschlandspezifische Entwicklung ist die seit gut zwei Jahrzehnten geringe öffentliche Investitionstätigkeit. Der Staat hat sich mehr und mehr aus seinen Aufgaben zurückgezogen und wichtige Vorleistungen für die Wirtschaft zurückgefahren. Um fast 40 Prozent sank der Anteil öffentlicher Investitionen seit der Wiedervereinigung bis in die Mitte der 2000er-Jahre.
Von gut drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts sank die öffentliche Investitionsquote auf unter zwei Prozent im Jahr 2004. Im Ergebnis wurde vor allem die kommunale Infrastruktur immer mehr verschlissen.(4)
Öffentliche Infrastruktur, Bildungsausgaben sowie Aufwendungen für Forschung und Entwicklung bilden allerdings eine wichtige Grundlage für private Investitionen.(5)
Diese Schwäche dürfte sich demnach in einer substanziell geringeren privatwirtschaftlichen Aktivität niedergeschlagen haben, die insgesamt den weitaus größeren Teil der Investitionstätigkeit ausmacht.
Investitionsschwäche auch hausgemacht
Jeden Monat kostenlos per Mail!
Die Gründe für schwache Investitionen sind in manchen Bereichen auf andere politische Entscheidungen zurückzuführen. Für die pharmazeutische Industrie, die aufgrund ihres Spitzenwerts bei den Forschungs- und Entwicklungsausgaben zu den Hightech-Branchen Deutschlands zählt, wurden im Nachgang der Weltfinanzkrise einschneidende Veränderungen in der Erstattung für Arzneimittel beschlossen. Im Jahr 2010 wurde das Arzneimittelneuordnungsgesetz (AMNOG) beschlossen(6)
, das die Preisfindung bei Arzneimitteln grundlegend neu regelt. Hinzu kam der Beschluss, dass für alle Medikamente der pauschale Herstellerrabatt substanziell auf 16 Prozent erhöht wurde.(7)
Der Herstellerrabatt hat unmittelbare Auswirkungen auf die Bilanzen und nimmt den Unternehmen Investitionsspielräume. Er wirkt wie eine zusätzliche Gewinnbesteuerung, da keine Möglichkeit zur Preisanpassung besteht. Der Zusammenhang zwischen Investitionen und der Höhe der Gewinnbesteuerung ist dabei wissenschaftlich recht eindeutig belegt.(8)
Der Kostenreduktion im Gesundheitswesen steht daher ein Verlust an Investitions- und Innovationstätigkeit in den Unternehmen gegenüber.
Diesen Verlust zu ermitteln ist nicht trivial, denn die absolute Höhe der Investitionen kann Ergebnis verschiedenster Entwicklungen sein. Beispielsweise hat die Finanzkrise offensichtlich erheblichen Einfluss auf die private Investitionstätigkeit gehabt. Eine erste Näherung ist die Schätzung des Trends der Investitionen bis in das Jahr 2009 und dessen Fortschreibung in den Folgejahren. Diese Vorgehensweise beruht auf der Annahme, dass sich konjunkturell bedingte Schwankungen der Investitionstätigkeit über einen Konjunkturzyklus hinweg ausgleichen. Systematische Abweichungen vom Trend können als Reaktion auf äußere Ereignisse, wie den Herstellerrabatt interpretiert werden.
Die Ergebnisse zeigen, dass die Schwankungen um den Trend bis in das Jahr 2009 vergleichsweise gering ausfielen und sich die positiven und negativen Abweichungen in etwa ausglichen. Mit der Erhöhung des Herstellerrabatts im Jahr 2010 gingen die Investitionen der pharmazeutischen Industrie deutlich zurück und näherten sich erst im Jahr 2014 wieder sichtbar dem langfristigen Investitionstrend an. Im Jahr 2014 wurde der Herstellerrabatt unter dem Strich auf sieben Prozent reduziert.
Eine alternative Herangehensweise, die auch konjunkturelle Schwankungen auffängt, ist der Vergleich der pharmazeutischen Industrie mit anderen Branchen. Eine einzelne Branche wird sich aufgrund der jeweiligen Spezifika aber auch hier nur bedingt als Vergleichsgröße eignen. Statistisch kann dies allerdings mit einem „synthetischen Zwilling“ erreicht werden. Diese Vergleichsgruppe wird dabei aus verschiedenen Branchen gewichtet zusammengestellt und kann dann für die Analyse unterschiedlicher Einflüsse herangezogen werden.(9)
Je besser die Zielgrößen vor dem Eintritt eines äußeren Ereignisses korrelieren, desto genauer kann der Einfluss – in diesem Fall der des Herstellerrabatts auf die Investitionstätigkeit der pharmazeutischen Industrie – bestimmt werden.
Der synthetische Zwilling der pharmazeutischen Industrie setzt sich aus unterschiedlichen Industrie- und Dienstleistungsbereichen zusammen und reflektiert damit den Querschnittscharakter der Branche, der sich auch im Rahmen der Input-Output-Beziehungen im Geflecht der Wirtschaftszweige zeigt.
Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass der im Jahr 2010 beschlossene Herstellerrabatt von 16 Prozent in einem Verlust bei der Investitionstätigkeit in den Jahren bis einschließlich 2014 von preisbereinigt rund zwei Milliarden Euro verursacht hat, wenn man die Abweichung vom linearen Trend zugrunde legt.
Dient die Investitionstätigkeit des synthetischen Zwillings als Referenz, so fiel der Verlust geringer aus, war mit einer Milliarde Euro aber nach wie vor beträchtlich. Unter dem Strich zeigen die Analysen: Durch den Herstellerrabatt gingen Investitionen in der Größenordnung einer Jahresinvestitionsleistung verloren – auf heutige Verhältnisse übertragen rund zwei Milliarden Euro.
Diese Investitionen sind ein unmittelbarer Verlust in der Leistungsfähigkeit der Industrie, der sich über Jahre in einer geringeren Wertschöpfung am Standort niederschlägt. Dies führt auch zu einer gesamtwirtschaftlich geringeren Wertschöpfung. Investitionen werden jedoch dringend benötigt, um den anstehenden strukturellen Wandel erfolgreich zu gestalten. Insbesondere in Hightech-Branchen wie der pharmazeutischen Industrie haben diese eine hohe gesamtwirtschaftliche Rendite, da das eingesetzte Kapital dort produktiver genutzt wird als in vielen anderen Branchen. Dieses Argument gilt analog für die Investitionen in Forschung und Entwicklung, deren Finanzierung ebenfalls durch erhebliche Belastungen infrage gestellt wird.
Neue Maßnahmen zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen wären daher nicht ohne Schaden an anderer Stelle – im Gegenteil: Fallen diese drastisch aus, wie im Beispiel des Herstellerrabatts, konterkarieren sie unter dem Strich wirtschaftspolitische Ziele.
MacroScope Facts
In der pharmazeutischen Industrie werden Beschäftigte gesucht. Der Index offener Stellen des Onlineportals indeed zeigt, dass die Zeiten, in der pharmazeutischen Industrie Anstellung zu finden, günstig sind. Seit Mitte des vergangenen Jahres ist die Zahl angebotener Stellen drastisch gestiegen und ist trotz der geopolitischen Krisen auf hohem Niveau.
(1) Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2014), Stärkung von Investitionen in Deutschland, online verfügbar. Baldi, G., Fichtner, F., Michelsen, C., & Rieth, M. (2014). Schwache Investitionen dämpfen Wachstum in Europa. DIW Wochenbericht, 81(27), S. 637-651, online verfügbar.
(2) Belitz, H., & Gornig, M. (2019). Deutsche Wirtschaft muss mehr in ihr Wissenskapital investieren. DIW Wochenbericht, 86(31), 527-534, online verfügbar.
(3) Bardt, H., Grömling, M., Hentze, T., & Puls, T. (2017). Investieren Staat und Unternehmen in Deutschland zu wenig? Bestandsauf-nahme und Handlungsbedarf (No. 118). IW-Analysen, online verfügbar.
(4) Gornig, M., Michelsen, C., & van Deuverden, K. (2015). Kommunale Infrastruktur fährt auf Verschleiß. DIW Wochenbericht, 82(43), 1023-1030, online verfügbar.
(5) Belitz, H., Clemens, M., Gebauer, S., & Michelsen, C. (2020). Öffentliche Investitionen als Triebkraft privatwirtschaftlicher Inves-titionstätigkeit (No. 158). DIW Berlin: Politikberatung kompakt, online verfügbar.
(6) Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung (Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz–AMNOG), online verfügbar.
(7) Wasem, J., & Greß, S. (2013). Abschätzung der Arzneimittelausga-ben der Gesetzlichen Krankenversicherung 2014 und 2015: Gut-achterliche Stellungnahme für den Verband forschender Arzneimit-telhersteller e. V.(vfa) (No. 202). IBES Diskussionsbeitrag, online verfügbar.
(8) Lichter, A., Löffler, M., Isphording, I. E., Nguyen, T. V., Poege, F., & Siegloch, S. (2021). Profit taxation, R&D spending, and innova-tion. ZEW-Centre for European Economic Research Discussion Paper, (21-080), online verfügbar; Bösenberg, S., Egger, P., & Zoller-Rydzek, B. (2018). Capital taxation, investment, growth, and welfare. International Tax and Public Finance, 25(2), 325-376, online verfügbar.
(9) Abadie, A., Diamond, A., & Hainmueller, J. (2010). Synthetic control methods for comparative case studies: Estimating the effect of California’s tobacco control program. Journal of the American statistical Association, 105(490), 493-505, online verfügbar.