#MacroScopePharma 09/24
Der Economic Policy Brief des vfa
Fachkräftemangel: Stille Reserven am Arbeitsmarkt heben
Der Fachkräftemangel bremst die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland aus. Mit der alternden Gesellschaft wird sich dieses Problem in den kommenden Jahren deutlich verschärfen. Allein bis 2029 werden annähernd sechs Millionen Erwerbstätige das Renteneintrittsalter erreichen, in den kommenden zehn Jahren gar doppelt so viele.
Selbst in der Pharmaindustrie, die eine recht junge Beschäftigtenstruktur aufweist, müssen knapp 40.000 Stellen neu besetzt werden. Dennoch „leistet“ sich Deutschland eine hohe Teilzeitquote. Rund zwölf der 46 Millionen Erwerbstätigen gehen einer Teilzeitbeschäftigung nach, die sie unter besseren Rahmenbedingungen ausweiten würden. Diese Potenziale können den Fach- und Arbeitskräftemangel deutlich lindern und so Investitionen innovativer Wachstumsbranchen an den Standort Deutschland lenken.
Mehr als 1,3 Millionen Stellen sind in Deutschland unbesetzt. Angesichts der seit gut drei Jahren stagnierenden Wirtschaftsleistung ist dies ein bemerkenswert hoher Wert(1) . Der Fachkräftemangel bremst die wirtschaftliche Entwicklung trotz konjunktureller Flaute erheblich aus. In Zukunft wird sich dieses Problem weiter verschärfen, denn altersbedingt werden immer mehr Menschen aus dem Erwerbsleben ausscheiden.(2) In den kommenden Jahren könnten sich wegen der demografischen Entwicklung die bislang gewohnten Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts auf dann rund ein halbes Prozent im Jahr halbieren. Dies ist für Deutschland eine ungleich größere Herausforderung als für seine Nachbarländer. Gemessen am Anteil der Beschäftigten über 60 Jahre (kurz: dem Älterenanteil) sind die Belegschaften in Deutschland im europäischen Vergleich am ältesten (Abbildung 1). Innerhalb der letzten 15 Jahre hat sich der Älterenanteil mehr als verdoppelt. Die Altersstruktur der Bevölkerung wird damit zu einem ernsthaften Wettbewerbsnachteil für den Wirtschaftsstandort.
Andere Länder machen in Teilen vor, wie die absehbaren Probleme angegangen werden können. Beispielsweise sorgen in skandinavischen Ländern flexible Rentensysteme, betriebliche Gesundheitsförderung und lebenslanges Lernen schon heute für eine vergleichsweise hohe Erwerbsbeteiligung
älterer Menschen. Dies unterstreicht die Bedeutung von sozialer Sicherheit und Arbeitsmodellen, die auf individuelle Bedürfnisse angepasst sind.(3)
Die Wachstumsinitiative der Bundesregierung4 greift dies auf und bringt Maßnahmen in den Gesetzgebungsprozess, die spürbare Verbesserungen für die Fach- und Arbeitskräftesituation herbeiführen können. Teil der Initiative sind Erwerbsanreize insbesondere für Ältere, Verbesserungen bei den Möglichkeiten, ausländische Fachkräfte zu gewinnen, und eine Stärkung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Dies kann spürbare wirtschaftliche Dynamik entfachen.(4)
Trotz dieser Vorhaben bleiben erhebliche und nicht adressierte Arbeitsmarktreserven unberücksichtigt: Rund drei Millionen Menschen in Deutschland wollen arbeiten, tun dies aber aus unterschiedlichen Gründen derzeit nicht. Zudem gibt es zwölf Millionen Arbeitnehmer:innen, die zu substanziellen Teilen unfreiwillig einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen.
Alterung der Belegschaften schreitet europaweit voran
Deutschland ist nicht allein mit seinen Herausforderungen in der Altersstruktur der Bevölkerung. Gleichwohl ist das Problem hierzulande deutlich größer als in vielen Nachbarländern. Die Alterung der Arbeitnehmer in Europa, gemessen am Älterenanteil, zeigt einen generellen Trend. Dieser Anteil ist seit 2008 in allen Ländern kontinuierlich gestiegen (Abbildung 2) – vor allem aufgrund der alternden Bevölkerung, nicht zuletzt aber auch aufgrund steigender Renteneintrittsalter. Deutschland wies im Jahr 2023 mit einem Anteil von 13,4 Prozent (über 60-Jährige) die im Durchschnitt ältesten Belegschaften auf, weit über dem EU-Durchschnitt (10,3 Prozent) und deutlich mehr als etwa in Frankreich (7,7 Prozent).
In skandinavischen Ländern, insbesondere Schweden, lag der Anteil älterer Beschäftigter bereits seit geraumer Zeit vergleichsweise hoch, was auch auf flexiblere Arbeitsmodelle und gute Arbeitsbedingungen zurückzuführen ist.(5) Vor allem aus diesem Grund liegt dort auch der Anteil über 65-Jähriger mit mehr als fünf Prozent deutlich über dem EU-Durchschnitt (drei Prozent); in Deutschland, den Niederlanden, Irland und der Schweiz ist er mit rund vier Prozent ebenfalls vergleichsweise hoch.
Industrie vor Herausforderungen – Pharma mit vergleichsweise „junger“ Belegschaft
Mit Ausnahme der Niederlande ist der Älterenanteil in der Industrie deutlich niedriger als in der Gesamtwirtschaft. Mit anderen Worten: In den Dienstleistungsbranchen dürfte die Alterung eher durchschlagen als in der Industrie. In Deutschland sind die Dienstleistungssektoren nahe am gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt – wenngleich mit beträchtlichen Unterschieden zwischen den Wirtschaftszweigen.
Auffällig ist, dass der Älterenanteil deutlich stärker von über 65-Jährigen geprägt ist (Abbildung unten, vgl. insb. die hellgrünen Balken). In der Industrie arbeiten deutlich weniger Menschen dieser Altersgruppe. Unter den 60- bis 64-Jährigen liegen Industrie und Dienstleister eng beieinander – gut neun Prozent der Belegschaften sind in diesem Alter. Innerhalb der Industrie sind es überwiegend innovationsstarke Schlüsselbranchen wie der Fahrzeugbau, Elektro oder Pharma, die einen geringen Älterenanteil aufweisen. Dies zeigt einerseits die Attraktivität der Branchen für den Nachwuchs. Andererseits wird sich die Alterung der Gesellschaft dort erst später bemerkbar machen.
Die Alterung der Gesellschaft schlägt sich absolut betrachtet in hohen Zahlen nieder: 5,8 Millionen Beschäftigte sind 60 Jahre oder älter. In den kommenden fünf Jahren dürften viele von ihnen in den Ruhestand gehen und große Lücken in die Belegschaften reißen. In den nächsten zehn Jahren sind es sogar weit mehr als elf Millionen Menschen (die Kohorte der heute über 49-Jährigen). Zahlenmäßig ist die Industrie besonders betroffen: Annähernd eine Million Beschäftigte erreichen in den kommenden fünf Jahren das Rentenalter (innerer Ring), in den nächsten zehn Jahren sind es sogar doppelt so viele (äußerer Ring).
Dabei ist das produzierende Gewerbe (ohne Bau) vergleichsweise jung: Zehn Prozent der Belegschaft ist derzeit 60 Jahre oder älter (vgl. die Zahlenangabe in Klammern im inneren Ring), weniger als ein Viertel ist über 54 Jahre alt. Damit stellen Ältere bereits einen erheblichen Anteil der Beschäftigten. Anteilsmäßig deutlich größere Abgänge müssen indes im Gesundheits- und Sozialwesen, dem öffentlichen Sektor, der Logistik sowie dem Unterhaltungsbereich und den sonstigen Dienstleistern ausgeglichen werden. Am jüngsten sind die Belegschaften im IT-Bereich.
In der Industrie variiert der Anteil älterer Beschäftigter erheblich – von 6,4 Prozent in der Pharmaindustrie bis hin zu 12,3 Prozent in der Nahrungsmittelindustrie (Abbildung 5, rechts). Allerdings liegt dieser Anteil weiterhin deutlich unter den Werten vieler Dienstleistungssektoren. Auch für die kommenden zehn Jahre bleibt die Lage vergleichsweise entspannt: Nur etwa jeder sechste Beschäftigte der Pharmaindustrie wird in diesem Zeitraum das Rentenalter erreichen. Dennoch sind die Herausforderungen beträchtlich: In den kommenden fünf Jahren könnten rund
14.000 Beschäftigte altersbedingt ausscheiden, und bis zum Jahr 2034 steigt diese Zahl auf etwa 37.000 – etwa ein Drittel der heutigen Belegschaft. Insgesamt zeigt sich, dass in den innovativen Schlüsselindustrien vergleichsweise junge Belegschaften arbeiten.
Dies gilt für die Pharmabranche, die Elektroindustrie, aber auch den Fahrzeugbau oder den IT-Sektor – kurz: Überall dort, wo der Innovationsgrad hoch ist. Im europäischen Vergleich indes weist die deutsche Pharmaindustrie im Hinblick auf den Älterenanteil dagegen einen relativ hohen Wert auf.
Enormes Potenzial schlummert still in der Reserve
In Deutschland gibt es annähernd 3,2 Millionen Menschen, die arbeiten möchten, jedoch durch spezifische Umstände daran gehindert werden. Diese sogenannte "Stille Reserve" wird in drei zunehmend arbeitsmarktferne Typen unterteilt: Typ A umfasst Menschen, die zumindest kurzfristig nicht für eine Arbeit verfügbar sind, und bildete im Jahr 2023 mit 372.000 Menschen die kleinste Gruppe (12 Prozent), gefolgt von Typ B – Menschen, die zwar verfügbar sind, jedoch derzeit nicht aktiv nach Arbeit suchen – mit 943.000 (30 Prozent). Die arbeitsmarktfernste Gruppe – Menschen, die aktuell weder für eine Arbeit verfügbar sind noch nach einer suchen, Typ C, bildet mit 1,8 Millionen Menschen die größte Gruppe.
Der Großteil der Personen, gut drei von fünf, gehört der (Haupt-)Altersgruppe der 25 bis 59-Jährigen an (Tabelle), also der im Mittel produktivsten und am Arbeitsmarkt am stärksten vertretenen Alterskohorte – was darauf hindeutet, dass eine Einbindung in den Arbeitsmarkt häufig möglich und sinnvoll wäre. Ein gutes Viertel der stillen Reserve ist unter 25 Jahre alt, nur gut jeder zehnte ist 60 Jahre oder älter. Alle Typen haben einen ähnlichen Altersaufbau, wobei die relevanteste Alterskohorte der 25- bis 59-Jährigen unter Typ B weniger vertreten ist, der dafür einen höheren Anteil Älterer aufweist.
Mit Blick auf das Qualifikationsniveau sind die drei Typen nahezu identisch: Die meisten Personen haben entweder ein niedriges oder mittleres Qualifikationsniveau (je zwei von fünf), lediglich jeder Fünfte verfügt über eine hohe Qualifikation. Um Menschen aus der stillen Reserve wieder in den Arbeitsmarkt zu
integrieren, sind also womöglich gezielte Qualifizierungsmaßnahmen hilfreich und teils erforderlich.
Hinderungsgründe zu arbeiten: Bildung, Betreuung und Krankheit
Die Hinderungsgründe unterscheiden sich stark nach den Alterskohorten – sie reichen von der Teilnahme an Bildungsmaßnahmen, Krankheit und Betreuungsverpflichtungen (Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen) über Ruhestand bis zu Schwierigkeiten, eine passende Arbeit zu finden. Andere familiäre oder persönliche Verpflichtungen sowie eine erwartete Wiedereinstellung spielen eine untergeordnete Rolle. Sie sind mit der gewichtigen, aber wohl heterogenen Kategorie „anderer Hauptgrund“ unter „Sonstiges“ zusammengefasst und werden nicht gesondert betrachtet.
Bei den Jüngeren (15 – 24-Jährige) steht vor allem die Teilnahme an Bildungsmaßnahmen einer aktiven Arbeitsaufnahme entgegen – dies betrifft mindestens die Hälfte von ihnen (57 bzw. 49 Prozent bei Typ A bzw. B und sogar 71 Prozent bei Typ C). Lediglich bei Typ B ist eine mangelnde Übereinstimmung zwischen Arbeitskräfteangebot und Arbeitsnachfrage („Job-Mismatch“) ein weiterer gewichtiger Grund (21 Prozent). In der Hauptalterskohorte (25 – 59-Jährige) sind Bildungsmaßnahmen vergleichsweise unbedeutend (17, elf bzw. 13 Prozent sind, je nach Typ, davon betroffen). Gewichtiger sind – zumindest als Ursache für die Nichtverfügbarkeit – Krankheit (27 bzw. 32 Prozent bei Typ A und C) und Betreuungsverpflichtungen (20 bzw. 26 Prozent bei Typ A und C). Bei Typ B fallen Bildungsmaßnahmen, Krankheit und Betreuungspflichten etwa gleich stark ins Gewicht (je gut ein Zehntel). Vor allem der Job-Mismatch ist, für rund ein Viertel, der ausschlaggebende Grund, keine Tätigkeit zu suchen.
Ältere (ab 60 Jahren) stehen mit weitem Abstand vor allem aufgrund gesundheitlicher Probleme nicht zur Verfügung (57 bzw. 53 Prozent bei Typ A und C). Der Ruhestand ist ein weiterer Faktor (13 bzw. 25 Prozent bei Typ A und C). Dieser ist vor allem für Ältere unter Typ B der ausschlaggebende Grund, trotz eines generellen Arbeitswunsches nicht aktiv zu suchen (45 Prozent) – Krankheit fällt hier indes kaum ins Gewicht (zwölf Prozent), dafür aber der Jobmismatch (22 Prozent).
Bei allen drei Typen sind die meisten Personen noch für geraume Zeit im arbeitsfähigen Alter – es schlummert somit Potenzial für eine zukünftige Arbeitsmarktintegration. Jüngere Personen sind häufig durch Bildungsmaßnahmen blockiert, was auch bedeuten kann, dass diese Menschen ihre Qualifikationen verbessern und künftig produktiv dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Da ein erheblicher Teil der Personen ein niedriges Qualifikationsniveau aufweist, dürften vielfach Qualifizierungsprogramme notwen- dig sein, um diese Menschen auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Eine beträchtliche Zahl derer, die nicht suchen, könnte über Anreize zur Unterstützung bei der Jobsuche oder gezielte Vermittlungsprogramme motiviert werden, in den Arbeitsmarkt einzutreten.
Vor allem in der Hauptalterskohorte ist das Thema Job-Mismatch ein wesentlicher Hinderungsgrund – beim Typ B gar der dominierende Faktor. Dies könnte auf strukturelle Barrieren im Arbeitsmarkt und entsprechend langwierige Probleme hinweisen. In der Hauptalterskohorte kommen, vor allem im Vergleich mit Jüngeren und Älteren, in erheblichem Umfang Betreuungspflichten hinzu. Dies deutet darauf hin, dass eine Pflegeverantwortung für Kinder oder ältere Familienmitglieder die Erwerbstätigkeit stark beeinträchtigt und sich mit den produktiven Hauptarbeitsjahren überschneidet, obwohl die betroffenen Personen häufig über relevante Qualifikation verfügen dürften. Bessere Unterstützung für Pflegende, ein breiteres Betreuungsangebot und flexiblere Arbeitszeiten sind sinnvolle Maßnahmen, um diesen Menschen einen besseren Arbeitsmarktzugang zu ermöglichen.
Ältere Personen befinden sich häufig bereits im Ruhestand. Sie könnten etwa durch finanzielle Anreize, flexible und individuellere Arbeitsmodelle sowie bessere Arbeitsbedingungen in produktive Beschäftigungsverhältnisse gelangen. Vor allem diese Gruppe – aber bei Weitem nicht ausschließlich – ist von Krankheit betroffen. Prävention und eine noch bessere Gesundheitsversorgung sowie Reintegrationsprogramme könnten einen beträchtlichen Anteil derer in Lohn und Brot bringen, die krankheitsbedingt nicht zur Verfügung stehen oder deswegen gar nicht suchen. Da auch die Hauptaltersgruppe deutlich von Krankheit betroffen ist, ist hier das Potential teils gut qualifizierter Beschäftigter zur Aktivierung breiter.
Teilzeit: Vor allem Betreuungspflichten sorgen für unfreiwillig geringe Arbeitszeit
Im Jahr 2023 waren 12,2 Millionen Menschen in Teilzeit beschäftigt. Ein Rekord, auch mit Blick auf den Anteil an allen Beschäftigungsverhältnissen: die sogenannte Teilzeitquote lag bei 30,9 Prozent. Eine:r von vier Beschäftigten ist eine Frau in Teilzeit (24,0 Prozent), unter den Männern sind es (mit 6,9 Prozent) deutlich weniger.
Wirklich aus freien Stücken verrichtet lediglich ein Viertel (27 Prozent) eine Teilzeitstelle. Zwar weist Deutschland bei der sogenannten „unfreiwilligen“ Teilzeit mit gut fünf Prozent im europäischen Vergleich einen niedrigen Anteil auf (in Frankreich betraf dies im Jahr 2022 jeden Vierten, in Italien und Spanien gar jeden Zweiten).(6) Das bedeutet aber lediglich, dass nur wenige Teilzeitbeschäftigte ihre Arbeitszeit nicht ausweiten können, obwohl sie dies wünschen und nicht anderweitig daran gehindert werden. Die überwältigende Mehrheit (zwei von drei Teilzeitbeschäftigten) würde gerne mehr arbeiten, wenn dem nicht Verschiedenes entgegenstünde. Vor allem Betreuungspflichten halten viele Menschen von mehr Arbeit ab (Abbildung unten, vgl. die beiden unteren blauen Balken). Im Jahr 2023 waren dies 4,6 Millionen Menschen, vier Millionen davon Frauen. Im Durchschnitt arbeiten Teilzeitbeschäftigte in Deutschland 21,8 Stunden – verglichen mit der durchschnittlichen Vollzeitstelle von 40,5 Stunden entsprechen zwei Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse etwa einer Vollzeitstelle. Die Reserve auf dem Arbeitsmarkt ist entsprechend groß. Würden alle wegen Betreuungspflichten unfreiwillig in Teilzeit arbeitenden Personen eine volle Stelle ausfüllen, entspräche dies 2,1 Millionen zusätzlichen Vollzeitstellen. Selbst wenn sie ihre wöchentliche Arbeitszeit auf 30 Stunden ausweiten, wären damit etwa 920.000 zusätzliche Vollzeitstellen verbunden. Selbst wenn also nur ein Teil der Betroffenen die Arbeitszeit ausweiten würde, wäre dies eine spürbare Entlastung beim Arbeits- und Fachkräftemangel. Und es wäre eine Entlastung für diejenigen Beschäftigten, die Überstunden leisten. Im vergangenen Jahr kamen rund 1,28 Milliarden Überstunden zusammen. Umgerechnet in Vollzeitäquivalente entspricht dies 610.000 Stellen.
Stille Reserve heben – Fachkräftemangel als Wachstumshemmnis lösen
Der Fachkräftemangel ist eine zentrale Herausforderung für Deutschland. Wird dieser nicht behoben, dürfte sich das Wachstumstempo im Land spürbar reduzieren und dabei auch Schwierigkeiten in der Finanzierung der Sozialversicherungssysteme nach sich ziehen. Deshalb ist es richtig, dass die Bundesregierung im Rahmen des Wachstumspakets hier in wichtigen Bereichen Weichen neu stellt.
Vor allem die Anreize für Ältere über das (abschlagsfreie) Renteneintrittsalter hinaus zu arbeiten, können kurzfristige Knappheiten reduzieren. Die Hürden der Arbeitsaufnahme auch durch den Abbau der sogenannten Transferentzugsraten zu senken – das heißt, Situationen zu vermeiden, in denen bei Arbeitsaufnahme keine substanziellen Einkommenszuwächse entstehen – ist richtig. Den Zuzug von Fachkräften aus dem Ausland zu erleichtern, ist ebenfalls zu unterstützen.
Gleichwohl hat auch dieses Paket blinde Flecken. Die stille Reserve wird längst nicht in Gänze adressiert. Dabei sind es vor allem die Menschen in Teilzeit, bei denen eine Ausweitung der Tätigkeit das Arbeitsangebot positiv beeinflussen würde. Der wichtigste Grund sind Betreuungsleistungen entweder für Kinder oder für kranke Angehörige. Diese halten vor allem Frauen davon ab, ihre Arbeitszeit auszuweiten. Der im Wachstumspaket forcierte Ausbau des Kita-Angebots für Kinder (vgl. Fußnote 4) ist daher ein richtiger Schritt. Dieser könnte gestärkt werden, wenn auch die Kostenseite der Kinderbetreuung in den Blick genommen würde. Der steuerlich anrechenbare Höchstbetrag der Betreuungskosten liegt seit dem Jahr 2012 unverändert bei 6000 Euro pro Jahr, die zu drei Vierteln angerechnet werden können. Angesichts der Lohn- und Preisentwicklung scheint hier eine Anpassung überfällig. Von Jahr zu Jahr werden bei einer ausbleibenden Anpassung die Arbeitsanreize vor allem bei Frauen gesenkt, wenn diese zwischen Kinderbetreuung und eigener Arbeitsleistung entscheiden müssen.
Ähnliches gilt für die Betreuung bei Krankheit. Bestenfalls werden Krankheitsfälle vermieden – entweder für Arbeitnehmer:innen oder bei Angehörigen. Prävention auch mit Blick auf die Fachkräftesituation zu forcieren, scheint deshalb ein notwendiger Schritt. Das Spektrum ist hier breit und reicht von der Vorbeugung psychischer Belastungen über die Prävention bei den Volksleiden Diabetes oder Herzkreislauferkrankungen bis hin zu Krebserkrankungen. Damit lassen sich auch erhebliche Verbesserungen der individuellen Lebenssituation erreichen.
Daten und Methoden
Für die Analyse der Beschäftigtenstruktur nach Alterskohorten wurden Daten von Eurostat verwendet (lfsa_egan22d), die die Zahl der abhängig Beschäftigten nach Ländern, Wirtschaftszweigen sowie verschiedenen Alterskohorten aufschlüsseln. Aus den vorliegenden Altersklassen wurden für vorliegende Analyse möglichst kleine, sich nicht überschneidende Kohorten gebildet, und zwar nach Altersjahren 15 – 19, 20 – 24, 25 – 39, 40 – 49, 50 – 54, 55 – 59, 60 – 64, 65 – 74 und 75+. Für die Analyse der stillen Reserve wurden Zahlen des Statistischen Bundesamtes ausgewertet, die ab 2020 (gemäß der Neuregelung des Mikrozensus) im Zuge der Arbeitskräfteerhebung nach Geschlecht, (groben) Altersklassen, Qualifikationsniveau und Hinderungsgründen aufgeteilt vorliegen. Ebenfalls aus der Mikrozensus-Erhebung stammen die Zahlen zur Teilzeit; auch diese sind in analoge Kategorien aufgeteilt.
MacroScope Facts
Das ifo-Institut erhebt monatliche Umfragewerte, auch unter einigen Unternehmen der Pharmaindustrie. Alle drei Monate werden diese zusätzlich gefragt, ob die Produktion aufgrund von Materialknappheiten behindert wird. Der Anteil derjenigen, die diese Frage bejahen, hatte im Zuge der Post-Corona-Probleme in den internationalen Lieferketten Höchstwerte erklommen. Ab Frühjahr vergangenen Jahres hatte sich die Situation merklich beruhigt, jüngst rückten jedoch Knappheiten wieder spürbarer in den Vordergrund (Abbildung).
Fußnoten:
(1) Vgl. Gürtzgen, N., Kubis, A., Popp, M. (2024): IAB-Monitor Arbeitskräftebedarf 2/2024: Rund 400.000 offene Stellen weniger als im Vorjahresquartal, IAB-Forum 16. September 2024, online verfügbar.
(2) Vgl. beispielsweise Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2023): Kaufkraft kehrt zurück – Politische Unsicherheit hoch, online verfügbar; dort den Abschnitt „Beschäftigungsaufbau endet“, S. 56 ff.
(3) OECD (2019), Working Better with Age, Ageing and Employment Policies, OECD Publishing, Paris, online verfügbar.
(4) Vgl. Fichtner, F., Junker, S., Michelsen, C. (2024): Impulse der Wachstumsinitiative: Welche Wirkungen möglich sind, MacroScope Pharma 08.24, online verfügbar.
(5) Laun, L. & Palme, M. (2018). The Recent Rise of Labor Force Participation of Older Workers in Sweden. NBER Chapters, in: Social Security Programs and Retirement around the World: Working Longer, S. 231 – 265, National Bureau of Economic Research.
(6) Nur wenige gehen einer Teilzeittätigkeit nach, weil sie keine Vollzeitstelle finden - diese als „unfreiwillige“ Teilzeit bezeichnete Beschäftigungsform übten lediglich 628.000 Menschen aus; in Abbildung 10 sind sie unter „andere Ursachen“ zusammengefasst mit den Ursachen Bildung (1,5 Millionen), gesundheitlichen Aspekten (0,6 Millionen) und nicht weiter spezifizierten Gründen (1,6 Millionen). Zur unfreiwilligen Teilzeit im EU-Vergleich siehe auch die entsprechende Themenseite des Statistischen Bundes- amtes (online verfügbar).