#MacroScopePharma 05/23
Der Economic Policy Brief des vfa
Alternder Kapitalstock: Wettbewerbsfähigkeit steht auf der Kippe
Die Maschinen und Anlagen, die Infrastruktur sowie das vorhandene Wissen bestimmen maßgeblich die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Veraltet all dies, drohen Nachteile im internationalen Konkurrenzkampf. Um dies zu verhindern, muss kontinuierlich in die Erneuerung des Kapitalstocks investiert werden. In Deutschland wurde das über Jahre vernachlässigt. Der Standort braucht dringend einen Modernisierungsschub.
Moderner Kapitalstock – wettbewerbsfähige Wirtschaft
Deutschland ist Exportweltmeister – gewesen. Nach jahrelangen Spitzenwerten bei den Auslandserlösen hat die Energiekrise dafür gesorgt, dass die Importe deutlich teurer werden und da- mit der Außenhandelsüberschuss erheblich geringer ausfällt. Doch das ist nicht der einzige Grund, weshalb Deutschland sich künftig bescheidener auf den Weltmärkten geben muss: Die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts kommt von unterschiedlichen Seiten erheblich unter Druck:(1)
Energiewende, Demografie, verpasste Chancen in der Digitalisierung und teils zu einseitige Abhängigkeiten von anderen Ländern stellen das Geschäftsmodell Deutschlands vor Herausforderungen.
Derzeit wird vor allem die Höhe der Energiepreise als Gefahr für die globale Konkurrenzfähigkeit des verarbeitenden Gewerbes diskutiert.(2)
Viel größere Sorge sollte allerdings die Tatsache bereiten, dass Deutschland bereits seit Jahren von seiner Substanz lebt. Im Vergleich mit vielen anderen entwickelten Volkswirtschaften hat Deutschlands Kapitalstock in den vergangenen knapp 20 Jahren erheblich an Qualität eingebüßt.
Die Modernität des Kapitalstocks kann näherungsweise ermittelt werden, indem das Verhältnis von Netto- zu Bruttokapitalstock betrachtet wird: Dieses stellt den kalkulatorischen Wert von Kapitalgütern während ihrer üblichen Nutzungsdauer dem Wiederbeschaffungswert der tatsächlich in Nutzung befindlichen Kapitalgüter gegenüber.
Ist das Nettoanlagevermögen geringer als das Bruttoanlagevermögen, dann werden die Anlagen über ihre übliche Nutzungsdauer hinaus genutzt. Je kleiner also das Verhältnis dieser beiden Größen, desto veralteter ist das eingesetzte Kapital (Abbildung 1).
vfa-Chefvolkswirt Claus Michelsen zur Bedeutung eines modernen Kapitalstocks bei "beyond the obvious - der Ökonomie-Podcast von Daniel Stelter - featured by Handelsblatt":
Deutschlands Substanz schwindet
Sowohl der Modernitätsgrad als auch seine Entwicklung sind über die Länder hinweg heterogen. Bereits im Jahr 1995 war Kanada das Land mit dem höchsten Modernitätsgrad und hat diesen, im Gegensatz zu allen anderen Ländern, bis zuletzt sogar erheblich gesteigert. Andernorts ging dieser zurück – mit Ausnahme von Frankreich, das das Niveau des Jahres 1995 in etwa halten konnte.
Prinzipiell ist eine rückläufige Modernität in entwickelten Volkswirtschaften durchaus plausibel, wenn Investitionen in anderen Wirtschaftsräumen attraktiver werden. So haben beispielsweise die bevölkerungsreichen Länder China und Indien zunehmend ausländische Direktinvestitionen anziehen können, die andernorts nicht getätigt wurden.
Sorge sollte allerdings die Entwicklung in Deutschland bereiten. Wie vielerorts ging der Modernitätsgrad des Kapitalstocks zurück – hierzulande aber mit zwölf Punkten am deutlichsten.
Vor allem die Infrastruktur bröckelt
Die Gründe für diese Entwicklung sind zunächst im Verschleiß der gebauten Infrastruktur zu suchen. Vor allen Dingen der öffentliche Kapitalstock wurde über Jahre vernachlässigt. Offensichtlich wird dies im Zustand von Schulen, Brücken oder der Bahninfrastruktur.(3)
Hinzu kommt, dass auch die Maschinen und Anlagen zunehmend länger als kalkulatorisch erwartbar in der Nutzung sind.
Die gute Nachricht ist, dass sich der Substanzverlust seit etwa 15 Jahren nur noch in den Bauten zeigt. Dieser bleibt aber so groß und die Bedeutung der Bauten am Kapitalstock insgesamt so gewichtig, dass er nicht durch einen leichten Aufwärtstrend bei der Modernität des Wissens aus Forschung und Entwicklung kompensiert werden kann. Mittlerweile ist in Deutschland das geistige Eigentum der modernste Teil des gesamtwirtschaftlichen Anlagevermögens (Abbildung 2).
Angesichts der demografischen Entwicklung wird vielfach auch gefordert, stärker als bislang auf wissensgetriebenes Wachstum zu setzen.
Industrie stellt wichtige Teile des Kapitalstocks
Die Industrie, die gesamtwirtschaftlich gut ein Fünftel der Wertschöpfung im Land generiert, stellt dabei ganz unterschiedlich große Teile des Anlagevermögens. Nur ein Fünfzigstel der gebauten Infrastruktur ist im Eigentum der Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes. Hingegen stellt die Industrie gut 26 Prozent aller Fahrzeuge, Maschinen und Anlagen. Mit 59 Prozent ist sie mit Abstand der bedeutendste Sektor für die Entwicklung des geistigen Kapitals – genauer, des Kapitalstocks aus Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten. An der Industrie führt daher kein Weg vorbei, wenn diese Investitionen in wirtschaftlich verwertbares geistiges Eigentum überführt werden sollen.
Auch die Industrie weist erhebliche Unterschiede im Modernitätsgrad seines Anlagevermögens auf (Abbildung 3, rechts). Er liegt mit einem Wert von 51 etwas unter dem gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt. Dies liegt primär daran, dass die Bauten weit hinter den Modernitätsgrad aller anderen Gebäude und Infrastrukturen zurückfallen (Modernitätsgrad 43,6 gegenüber 54,7). Die Maschinen und Anlagen sind etwas weniger modern als in den übrigen Wirtschaftsbereichen (50,6 gegenüber 51,9) – hingegen liegt der Modernitätsgrad des geistigen Eigentums über dem gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt.
Nur wenige Branchen können Modernitätsgrad erhalten
Innerhalb der Industrie sind es die Wirtschaftszweige Pharma, Automobil und Maschinenbau, die einen überdurchschnittlichen Modernitätsgrad des Kapitalstocks aufweisen, gefolgt von EDV und dem sonstigen Fahrzeugbau. Verglichen mit dem Jahr 1991 konnten auch nur wenige Industrien den Modernitätsgrad des Kapitalstocks halten oder gar ausbauen. Positiver als im industriellen Durchschnitt haben sich die Bereiche Kfz, Pharma, Mineralölverarbeitung, EDV und die Metallverarbeitung entwickelt. Letztere hatte allerdings im Jahr 1991 bereits einen recht veralteten Kapitalstock.
Überwiegend konnten also diejenigen Wirtschaftsbereiche ihren Kapitalstock erhalten, die in den vergangenen Jahren auch Wertschöpfungsanteile stabilisieren oder hinzugewinnen konnten. Diese haben den Verlust der übrigen industriellen Sektoren kompensiert.(4)
Der gesamtwirtschaftliche Verlust an Wettbewerbsfähigkeit ist also auch im industriellen Kern zu beobachten. Die Entwicklung des Modernitätsgrads des Anlagevermögens ist damit auch ein Indikator für strukturellen Wandel.
Eine Besonderheit zeigt sich bei den Anlagen der pharmazeutischen Industrie: Während die Modernität der Ausrüstungen entgegen der Entwicklung in den allermeisten anderen Industrien bis zur Finanzkrise auf hohem Niveau verblieb, brach diese in den 2010-er Jahren ein (Abbildung 4). Der Modernitätsgrad erholte sich erst seit dem Jahr 2014 wieder. Dies hängt maßgeblich mit der im Jahr 2010 beschlossenen Neuregelung bei der Vergütung von Medikamenten zusammen. Zwangsrabatte und das Arzneimittelneuordnungsgesetz schränkten die finanziellen Spielräume für Investitionen massiv ein. Diese Beschlüsse wirken sich bis heute negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit aus.(5)
Mittlerweile ist der pharmazeutische Anlagenpark wieder der modernste der Industrie, gefolgt von der Automobilindustrie. Bei den sehr langlebigen Bauten weisen ebenfalls die Pharma- und die Automobilindustrie den höchsten Modernitätsgrad ihrer Infrastruktur auf. Der Verfall von Bauwerken ist in den meisten anderen Branchen in den Zahlen deutlich zu erkennen.
Von größerer Bedeutung für die Zukunft ist die Entwicklung des Kapitalstocks geistigen Eigentums. Hier finden erhebliche Verschiebungen zwischen den Wirtschaftszweigen statt. Offenbar setzen die Branchen unterschiedlich stark auf ihre technologische Zukunftsfähigkeit. Industrieweit ist seit mehr als zehn Jahren ein Aufwärtstrend erkennbar, der Hoffnung für den Industriestandort Deutschland und dessen Technologieführerschaft in Schlüsselindustrien macht. Der Automobilbau aber auch Pharma und der Maschinenbau führen hier die Entwicklung an. In anderen Branchen hingegen ist der Substanzverlust deutlich erkennbar.
Produktivität erfordert modernes Kapital – Politik muss handeln
Der Zusammenhang zwischen einem modernen Kapitalstock und der Produktivität einer Branche oder einer Volkswirtschaft ist naheliegend – und zeigt sich auch in der deutschen Industrie: Je moderner der Kapitalstock, desto höher die Wertschöpfung je Beschäftigten (Abbildung 5). Um die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts zu stärken, sollte eine zukunftsgerichtete Industriepolitik also Investitionen begünstigen und die Anreize gerade für die Entwicklung geistigen Eigentums stärken.
Hierfür gibt es mehrere politische Handlungsfelder: Erstens sollte auf die Entwicklungen in den USA reagiert werden. Der Inflation Reduction Act setzt umfängliche Anreize für Investitionen bestimmter Branchen in den USA. Um die notwendige Modernisierung des Standorts Europa voranzutreiben und Investitionen auch hier attraktiv zu machen, könnten Superabschreibungen für Investitionen in moderne und nachhaltige Produktionsanlagen gewährt werden.
Damit Technologieführerschaft in Schlüsselbranchen erlangt werden kann, braucht es zweitens gezielte Unterstützung bei der Skalierung industrieller Fertigung und ein attraktives Umfeld für die Durchführung von Forschung und Entwicklung.
Die steuerliche Forschungsförderung wäre hierfür großzügiger zu gewähren und eine mutige Nutzung sogenannter Important Projects of Common European Interest (IPCEI) notwendig. Drittens bedarf es großer öffentlicher Investitionen. Diese steigern die Produktivität des privaten Kapitals und wurden zudem in den vergangenen Jahrzehnten in viel zu geringem Umfang durchgeführt. Die Herausforderung der Energiewende und die Digitalisierung machen darüber hinaus eine Veränderung des existierenden Kapitalstocks notwendig. Ohne diese öffentlichen Vorleistungen werden private Investitionen selten rentabel.(6)
Nun braucht es politischen Mut, strukturellen Wandel zuzulassen und zu unterstützen. Dabei darf den Schlüsselindustrien des Landes nicht die Wachstumsgrundlage durch Bürokratie oder außerordentliche Belastungen entzogen werden. Für die pharmazeutische Industrie gilt dies besonders, da ihre Erlöse maßgeblich durch politisch regulierte Mechanismen bestimmt werden.
MacroScope Facts
Der Krankenstand schwankt saisonal um jahresdurchschnittlich gut vier Prozent. Die graue Fläche stellt das im Zeitraum 2012 bis 2021 typische Muster dar (berechnet als Mittelwert +/- eine Standardabweichung). Während die Jahre 2020 und 2021 fast durchweg innerhalb dieses Bereichs blieben, war das vergangene Jahr durch einen außergewöhnlich hohen Krankenstand geprägt. Im Dezember wurde für 2022 ein Rekordwert verzeichnet, der im März 2023 übertroffen wurde. Dies dürfte im März maßgeblich zur schwachen Produktionsleistung in der Industrie beigetragen haben.
Fußnoten:
(1) Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2022), Energiekrise solidarisch bewältigen, neue Realität gestalten, Jahresgutachten 2022/2023, Kapitel 5, online verfügbar
(2) Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2023), Gemeinschaftsdiagnose #1/2023, Inflation im Kern hoch – Angebotskräfte jetzt stärken, online verfügbar
(3) Grömling, M., Hüther, M., & Jung, M. (2019). Verzehrt Deutschland seinen staatlichen Kapitalstock? Wirtschafts- dienst, 99(1), 25-31, online verfügbar. Gornig, M., & Michelsen, C. (2017). Kommunale Investitionsschwäche: Engpässe bei Planungs- und Baukapazitäten bremsen Städte und Gemeinden aus. DIW Wochenbericht, 84(11), 211-219, online verfügbar
(4) Michelsen, C. Junker, S. (2023), Pharma als Schlüssel für künftigen Wohlstand, MacroScope Pharma Economic Policy Brief des vfa #02.2023, online verfügbar
(5) Michelsen, C. Junker, S. (2022), Geringe Investitionen belasten Deutschlands Wachstum, MacroScope Pharma Economic Policy Brief des vfa #06.2022, online verfügbar
(6) Clemens, M., Fratzscher, M., & Michelsen, C. (2021). Ein Investitionsprogramm zur Krisenbewältigung. Wirtschaftsdienst, 101(3), 168-171, online verfügbar