#MacroScopePharma 05/22
Der Economic Policy Brief des vfa
Sichere Jobs der Zukunft: Qualifikation als Schlüssel
Anspruchsvolle und damit hochproduktive Jobs sind ein Ausweg aus der demografischen Falle. Sie generieren eine höhere Wertschöpfung und sind zudem krisensicher. Gelingt es in Zukunft nicht, die Wissensintensität zu steigern, wird es schwer werden, die bislang gewohnten Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts zu halten.Krisen treffen Industrien unterschiedlich hart
Die Corona-Krise hat nach Jahren des stabilen Wachstums vor Augen geführt, wie anfällig global arbeitsteilig organisierte Volkswirtschaften in Krisen sind. Die Pandemie ist nach wie vor ein Stresstest für ausgeklügelte Lieferketten, die, wenn sie einmal gestört sind, lange Zeit brauchen, um wieder reibungslos zu funktionieren. Hinzu kommt der Krieg in der Ukraine, der zudem bislang sicher geglaubte Energielieferungen infrage stellt. Dies trifft Volkswirtschaften wie die deutsche mit hohen Anteilen industriell gefertigter Güter besonders stark. Da diese entweder auf große Mengen an Vorleistungen angewiesen sind oder hochspezialisierte Vorprodukte aus anderen Teilen der Erde beziehen.
Derartige Störungen treffen indes nicht alle Industriebranchen gleichermaßen. Im Gegensatz zu den stark auf Produktion ausgelegten Betrieben sind wissensintensive Bereiche, vor allem mit einem Schwerpunkt auf Forschung und Entwicklung, von den Vorleistungen anderer Betriebe weniger abhängig. Das zeigt sich beispielsweise anhand der Kurzarbeit, die konjunkturelle Schwankungen am Arbeitsmarkt abfangen und so Arbeitslosigkeit verhindern soll. (1)
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In den großen Krisen seit der Jahrtausendwende traten zwischen den Branchen unterschiedliche Muster bei der Inanspruchnahme von Kurzarbeit hervor. Sie wird in den Bereichen der deutschen Industrie mit der höchsten Wertschöpfung – der Automobilherstellung, dem Maschinenbau und der Chemie – deutlich stärker in Anspruch genommen, als in anderen Wirtschaftszweigen (s. Abb. oben). Während sich in der Automobilindustrie zeitweilig über ein Drittel der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, in der Coronakrise sogar 60 Prozent, in Kurzarbeit befanden, waren es bei den Pharmaunternehmen in der Spitze lediglich 3,5 Prozent.
Die Gründe für die hohen Produktionseinbrüche und die damit einhergehende Kurzarbeit liegen dabei in einer überdurchschnittlich sinkenden Nachfrage in einer schweren Rezession, etwa nach Fahrzeugen, und zuletzt vor allem in Schwierigkeiten bei der Fertigung. In der Corona-Krise hat sich die Anfälligkeit einzelner Branchen gegenüber Störungen der internationalen Lieferketten besonders deutlich niedergeschlagen.
Hinzukommen die derzeit rigiden Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus in China. Sie werden sich in den kommenden Wochen ebenfalls bemerkbar machen. Tausende Container mit Vorprodukten, die in der Industrie benötigt werden, stecken in den Häfen Chinas fest. (2)
Containerkapazitäten sind an Orten gebunden, wo diese nicht gebraucht werden oder sind dort besonders knapp, wo Waren auf den Versand warten.
Ein weiteres Beispiel für die Abhängigkeit von ausländischen Zulieferungen zeigt sich in der Automobilindustrie. So sind es die in der Ukraine gefertigten Kabelbäume, die derzeit für erhebliche Produktionsstörungen in der Herstellung von Kfz führen. Insgesamt spiegelt sich dieses Bild auch in Umfragen zur Materialknappheit wider, die momentan außergewöhnlich hohe Werte verzeichnen. (3) Auch für die Pharmabranche zeigen sich derzeit bislang nie dagewesene Engpässe, die aber eine insgesamt weniger angespannte Situation zeichnen als in der übrigen Industrie (vgl. "MacroScope Facts" weiter unten).
Wissensintensität als Krisenversicherung
Neben diesen Aspekten dürften weitere Faktoren die Krisenanfälligkeit einzelner Branchen beeinflussen. Die Wissensintensität in der Wertschöpfung ist eine davon. Diese variiert zwischen den Industrien erheblich (s. Abb. oben). Gemessen am Anteil der Akademiker:innen liegt die Wissensintensität im industriellen Durchschnitt bei gut 15 Prozent. Besonders gering ist der Anteil in der Holzverarbeitung, der Nahrungsmittelindustrie oder der Herstellung von Möbeln. Aber auch in großen Branchen wie dem Maschinenbau oder der Chemie liegt der Akademiker:innenanteil mit weniger als 20 Prozent nahe dem Durchschnitt der gesamten Industrie.
In den Hightechbranchen – nach gängiger Abgrenzung Wirtschaftszweige, die mehr als neun Prozent ihres Umsatzes für Forschung und Entwicklung aufwenden - liegt der Anteil der Belegschaft mit Hochschulabschluss nahe oder über 30 Prozent. Angeführt wird das Feld von der pharmazeutischen Industrie mit einer Akademiker:innenquote von rund einem Drittel in den Belegschaften. Der höhere Anteil machte sich in den vergangenen 20 Jahren bemerkbar. In den großen Krisen haben sich die wissensintensiven Branchen tendenziell als stabiler erwiesen - sowohl in der Umsatzentwicklung als auch in der Beschäftigung.
Tatsächlich sind bei den größten deutschen Industriebranchen die Einbrüche bei Produktion, Umsatz und Beschäftigung sowohl in der Finanz- als auch in der Coronakrise umso höher, je geringer das Qualifikationsniveau der dortigen Mitarbeiter:innen ist (Abbildung unten). Um Sonderfaktoren in jeweils einer der beiden Phasen aufzufangen, wird der durchschnittliche Einbruch in beiden Krisen betrachtet. Das Bild ändert sich aber nicht grundlegend, wenn stattdessen nur die Finanz- oder Coronakrise, oder alternativ die Unterauslastung – als Abweichung von einem langfristigen Trend – betrachtet wird.
Die tiefsten Einschnitte bei den Umsätzen verzeichneten die Metall- und die Automobilindustrie, während die vergleichsweise wissensintensiveren Pharma- und Elektronik-Unternehmen geringe Rückgänge zu verkraften hatten. Auch in der Beschäftigungsentwicklung schneidet die wissensintensive pharmazeutische Industrie deutlich besser ab als alle anderen Wirtschaftszweige. Hohe Beschäftigungsverluste trafen beispielsweise die Metall- und insbesondere die Glasindustrie – beides Branchen mit einem vergleichsweise niedrigen Qualifikationsniveau.
Die Wissensintensität ist jedoch nicht alleinige Erklärung für die beobachtbaren Unterschiede. So ist die Anatomie einer jeden Krise unterschiedlich. Naheliegend ist, dass sich die pharmazeutische Industrie gerade in der Corona-Krise als stabil erwiesen hat. Die Produkte wurden dringend benötigt. Allerdings ist die Entwicklung kein reiner Sondereffekt: Auch in der vorangegangenen Rezession, der Finanzkrise 2008/09 war die pharmazeutische Industrie ein Stabilitätsanker. In nahezu allen großen deutschen Industriebranchen, allen voran der Automobilindustrie, wurde hingegen in beiden Krisen massiv auf Kurzarbeit zurückgegriffen und Stellen abgebaut.
Qualifikationen stärken – Zuwanderung fördern
Ein Weg, die Krisenfestigkeit einer Volkswirtschaft zu stärken, ist, auf eine höhere Wissensintensität in der Wertschöpfung zu setzen. Diese ist zwar auch international vernetzt, reduziert aber die Abhängigkeiten von industriellen Vorprodukten und Rohstoffen. Deren Verbrauch zu reduzieren ist erklärtes europäisches Ziel. Hinzu kommt, dass erfolgreiche Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten einen innovativen Vorsprung gegenüber anderen Standorten dauerhaft sichern.
Das Ziel, 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Innovationstätigkeit aufzuwenden, wird auch angesichts der demografischen Entwicklung dringlicher denn je. Angesichts der alternden Bevölkerung Deutschlands und der steigenden Zahl der Menschen, die in den beruflichen Ruhestand gehen, muss die Produktivität der verbleibenden Erwerbsbevölkerung deutlich zunehmen, um die Wirtschaftsleistung weiter zu steigern. Grundlage dafür sind besser ausgebildete Belegschaften und ein struktureller Wandel hin zu einer höheren Wissensintensität.
Dies stellt das Bildungssystem und die Arbeitsmärkte vor Herausforderungen. In Branchen wie der pharmazeutischen Industrie ist es bereits jetzt deutlich schwerer, qualifiziertes Personal zu finden. 41 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gehen Spezialist:innen- und Expert:innentätigkeiten nach, die vielfach mit akademischen Qualifikationen verbunden sind. Knapp die Hälfte sind Fachkräfte mit abgeschlossener Berufsausbildung. Dagegen ist im industriellen Durchschnitt nur ein knappes Drittel der Beschäftigten auf der Ebene der Spezialist:innen oder Expert:innen tätig, fast 60 Prozent gehören zu den Fachkräften (s. Abb. oben).
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Gut 18 Prozent der offenen Stellen in pharma-relevanten Berufen konnten schon im Jahr 2021 nicht qualifiziert besetzt werden. Besonders herausfordernd war dies in IT-Berufen – hier blieben 44 Prozent der offenen Stellen frei. (4)
Neben der allgemeinen Verbesserung der Rahmenbedingungen für Forschung- und Entwicklung wird es zukünftig also darauf ankommen, die benötigten Fachkräfte auszubilden und aus dem Ausland zu gewinnen. Die Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen ist ein Schlüssel. Diese ist im Berufsqualifikationsgesetz aus dem Jahr 2012 geregelt. Zum anderen ist diese in dem vor zwei Jahren in Kraft getretenen Fachkräfteeinwanderungsgesetz verankert. Es erleichtert die Erwerbsmigration von Fachkräften aus nicht-europäischen Drittstaaten bereits.
Neben der Zuwanderung fertig ausgebildeter Fachkräfte ist die Zuwanderung über das Bildungssystem ein weiterer Schritt zur Fachkräftesicherung. Zwar würde dies mit Kosten in der Ausbildung verbunden sein. Mittelfristig jedoch zahlt sich dies in Form stärkerer Krisenresillienz, höherem Wachstum und deutlich höheren Einnahmen der öffentlichen Hand aus.
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MacroScope Facts
Fehlende Vorleistungen behindern bei zahlreichen Betrieben der pharmazeutischen Industrie in Deutschland die Fertigungsabläufe. Aktuell melden rund 43 Prozent der Unternehmen, dass Materialien für die Produktion fehlen. Dieser Wert ist außergewöhnlich hoch. Grund dafür sind die Folgen der Corona-Krise und der Krieg in der Ukraine, der Lieferketten unterbricht.
(1) Gehrke, B., & Hochmuth, B. (2017). Rettet Kurzarbeit in Rezessio-nen Arbeitsplätze? Wirtschaft und Gesellschaft, 43(1), 99-122, online verfügbar.
(2) Kiel Trade Indicator 04/2022: Welthandel stabilisiert sich, online verfügbar.
(3) ifo Konjunkturtest 04/2022, Reichweite der Aufträge für die Industrie mit Rekord, online verfügbar.
(4) Diel, A., & Kirchhoff, J. (2018). Gibt es einen Fachkräfteengpass in der deutschen Pharmaindustrie?. IW-Trends-Vierteljahresschrift zur empirischen Wirtschaftsforschung, 45(3), 79-95, online verfügbar.