Mehr Resilienz für Gesundheitssysteme: Hohe Investitionen notwendig
Die internationale Staatengemeinschaft muss erhebliche Anstrengungen unternehmen, um ihre Gesundheitssysteme gegen vorhersehbare und nicht vorhersehbare Krisen – insbesondere aufgrund der globalen Erderwärmung und künftiger Pandemien – resilienter zu machen. 1,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts an zusätzlichen Investitionen in sechs Schlüsselbereichen hält die OECD auf Basis einer Mitte März 2023 veröffentlichten Analyse dreijähriger Erfahrungen mit der Corona-Pandemie im Durchschnitt für notwendig, um die Gesundheitssysteme lern- und widerstandsfähiger zu machen. Ähnlich sieht das der deutsche Sachverständigenrat für Gesundheit und Pflege in seinem im Januar publizierten Gutachten: In der Pandemiekrise habe sich gezeigt, dass Deutschland in Wirklichkeit über ein „sehr komplexes und fragiles, nicht sehr reaktionsschnelles, wenig anpassungsfähiges Schönwettersystem“ verfügt. Das dürfe nicht so bleiben.
Vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges seit Februar 2022, der durch den Krieg ausgelösten Energiekrise mit hoher Inflation und Wohlstandverlusten sowie den immer spürbarer werdenden Folgen der globalen Erderwärmung scheinen die Aufmerksamkeitshaushalte staatlicher Institutionen und der Gesellschaft erschöpft zu sein – mit dem Übergang der Pandemie in einen moderaten endemischen Zustand drohen die Folgen von COVID-19 zu verblassen.
Die Pandemie war eine humane und wirtschaftliche Katastrophe
Der OECD-Report warnt und findet dazu deutliche Worte: „Die COVID-19-Pandemie ist eine Tragödie.“ Denn die Bilanz der Pandemie ist eine humane und wirtschaftliche Katastrophe:
- Weltweit, so die OECD, starben an oder mit der Infektion 6,8 Millionen Menschen.
- Die Exzess-Mortalität erreichte bis Ende 2021 18 Millionen Opfer, das sind so viele Tote wie im gesamten Ersten Weltkrieg.
- Das Sozialprodukt der OECD-Länder sank im Jahr 2020 zusammengenommen um 4,7 Prozent. Absolut entspricht dies einem Wohlfahrtsverlust von 2,8 Billionen Dollar, insbesondere auch als Folge von Lockdowns und massiver Unterbrechung von Lieferketten.
- Schutz- und Isolisierungsmaßnahmen, insbesondere die Schließung von Kitas und Schulen, verursachten enorme, kaum aufholbare Bildungsdefizite bei Kindern und Jugendlichen mit einer besonders stark ausgeprägten zusätzlichen negativen Belastung ohne sozioökonomisch benachteiligter Schichten; die besondere und nachträglich kaum zu rechtfertigende Solidaritätslast, die Kinder und Jugendliche in der Pandemie übernommen haben und die neben Bildungsdefiziten zu einem starken Anstieg psychischer Beschwerden – die OECD berichtet von einer Verdoppelung der Häufigkeit 2020/21 gegenüber 2019 in etlichen Ländern – führte, wurde im Januar vom Deutschen Ethikrat thematisiert.
- Ein nicht gelöstes Problem ist Long-COVID; wie viele Menschen von der schweren Langzeiterkrankung betroffen sind, ist abschließend nicht klar – die Schätzungen schwanken zwischen 2 und 15 Prozent der Infizierten, darunter auch ein hoher Anteil jüngerer Menschen. Sie haben ein hohes Risiko, ihre Arbeitsfähigkeit nie wieder zu gewinnen; der soziale und wirtschaftliche Absturz ist eine reale Gefahr.
Die OECD identifiziert in ihrem Report drei Problemkreise:
- Die Systeme waren nicht ausreichend vorbereitet: Im Durchschnitt aller OECD-Länder wurden 2019 nur 2,7 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben für Prävention aufgewendet. Zu wenig für den Schutz vulnerabler Gruppen: ältere Menschen, Menschen mit Übergewicht (in Deutschland über 50 Prozent der Erwachsenen) und chronischen Krankheiten wie Diabetes; sie waren überdurchschnittlich stark von Infektionen und schweren Corona-Erkrankungsverläufen betroffen. Armut und Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minorität haben zu einem doppelt so hohen Mortalitätsrisiko von COVID-19 geführt.
- Viele Gesundheitssysteme sind personell unterbesetzt: Belastung und Stress, insbesondere des Pflegepersonals, führten zu einer Flucht aus dem Beruf – eine Wirkung, die auch in Deutschland unter anderem in der Intensivmedizin zu beobachten war.
- Fehlende Investitionen und Bevorratung: In den meisten Ländern, darunter auch in den USA mit dem teuersten Gesundheitssystem, waren kritische Kapazitäten wie die Intensivmedizin rasch erschöpft. Fehlende Bevorratung essentieller Medizinprodukte (Masken) und die Unterbrechung von Lieferketten führten zu kontraproduktiven Hamstereffekten und Exportbeschränkungen.
OECD definiert sechs Handlungsfelder
Vor diesem Hintergrund empfiehlt die OECD, im Vergleich zu 2019 im Durchschnitt aller Länder 1,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zusätzlich in die Gesundheitsversorgung zu investieren. Sie spricht dabei ausdrücklich von einem Investment, das zu einem Großteil in die Stärkung der personellen Ressourcen fließen sollte. Präzisiert wird dies in Empfehlungen für sechs Aufgabenfelder:
- Schutz vulnerabler Gruppen: Das bedeutet zunächst effektive und zielgruppenspezifische Prävention zur Verbesserung des Gesundheitsschutzes und eine Stärkung von Primary Health Care als besonderes kosteneffektive Maßnahmen seien essentiell, um die Auswirkungen zukünftiger Schocks zu mildern.
- Stärkung der personellen Ressourcen: Die OECD empfiehlt, den Personalbestand in der Medizin und in der Langzeitpflege perspektivisch um drei Millionen Fachkräfte aufzustocken. Sie weist ausdrücklich darauf hin, dass nicht die Bettenkapazität, sondern das Personal in Krisensituationen der wichtigste Engpass-Faktor ist.
- Verfügbarkeit von Daten: In der Pandemie habe sich gezeigt, dass politische Entscheidungsträger ohne geeignete und aktuelle Daten „im Blindflug“ arbeiten. Nur 14 OECD-Länder – weit weniger als die Hälfte – sind in der Lage, Gesundheitsdaten sektorenübergreifend miteinander zu verbinden. Schlüsselinformationen zur Steuerung der Gesundheitssysteme in Echtzeit seien nicht verfügbar gewesen. Nur in zwei Ländern existierten vor der Pandemie wöchentlich berichtete Mortalitätsdaten. Allerdings haben die Staaten während der Pandemie begonnen, in ihre digitale Infrastruktur zu investieren. Diese Anstrengungen, so die OECD, müssen aufrechterhalten werden, auch um Daten international zwischen den verschiedenen Gesundheitssystemen auszutauschen. Die betrifft auch Effekte von Schutzmaßnahmen, etwa von Schulschließungen auf Bildungsfortschritte.
- Stärkung der internationalen Kooperation: Globale Mobilität und Arbeitsteilung steigern signifikant die Wohlfahrt, aber sie können auch Krisen und Schocks verstärken. Dies erfordert allerdings schnelle Entscheidungen auf internationaler Ebene insbesondere bei einer beginnenden Pandemie. Benötigt wird dazu ein effektiveres internationales Surveillance-System mit kontinuierlichen Informationen zur schnellen Koordination des Risikomanagements. Die OECD bemängelt den ungleichen Zugang und die ungleiche Distribution von Impfstoffen. Schutzausrüstungen und Vakzine müssten als globale öffentliche Güter verstanden werden, deren möglichst gleichmäßige und gerechte Verteilung unter glaubwürdigen rechtlichen Rahmenbedingungen, verbindlichen Verpflichtungen und langfristig gesicherter Finanzierung erleichtert wird. Bestehende Initiativen, wie zum Beispiel das COVAX-Programm, sollten auch zwischen Pandemien verstetigt werden, um erneute Disruptionen bei erneuten Pandemien zu vermeiden.
- Stärkung und Sicherung der Lieferketten: 92 Prozent der OECD-Länder berichteten Engpässe bei persönlichen Schutzausrüstungen, 83 Prozent bei Testmaterialien. Verschärft wurde die Versorgungskrise durch Handelsbarrieren. Mit Blick auf künftige Krisen empfiehlt die OECD detaillierte Informationen über Sortimentsangebote, Anbieter und Herkunftsländer von Fertigprodukten und Schlüsselrohstoffen. Eine begrenzte Zahl von Anbietern soll als Warnsignal für eine vulnerable Versorgungssituation gesehen werden. Diversifikation der Lieferketten, internationale Kooperation bei der Bevorratung und Verteilung, Sicherung leistungsfähiger Produktionskapazitäten in Kombination mit Lieferverpflichtungen der Anbieter sollen die Versorgung auch dann sichern, wenn der Bedarf am größten ist.
- Vertrauensbildung: Vertrauen in öffentliche Institutionen sind eine Grundvoraussetzung für die Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen in Krisenzeiten, insbesondere dann, wenn Freiheitsrechte – wie in der Pandemie durch Lockdowns geschehen – eingeschränkt werden. Desinformation untergräbt Vertrauen und schadet der Wirksamkeit von Risikomanagement. „Führerschaft auf höchster Ebene ist erforderlich, wenn schnelle Entscheidungen unter Unsicherheit getroffen werden müssen“.
Zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt auch der Sachverständigenrat für Gesundheit und Pflege in seinem jüngsten Gutachten, in dem die erforderlichen Maßnahmen für eine systematische Schaffung von Resilienz vor dem Hintergrund möglicher erneuter Pandemien und der Gesundheitsrisiken aufgrund der globalen Erwärmung beschrieben werden.
Grundsätzlich sei dazu ein „Horizon“-Screening erforderlich, bei dem Eintrittswahrscheinlichkeiten für zukünftige Krisen anhand des derzeitigen Wissensstandes geschätzt werden. Notwendig sie ein „All hazards-Ansatz“, der möglichst alle unterschiedlichen Risiken in die Analyse einbezieht. Dies sollte mit einer Health in All Policy verbunden werden, bei der Ressorts wie Wirtschaft, Verkehr und Bildung gesundheitsrelevante Aspekte mitdenken. Vice versa müssten bei Maßnahmen zum Gesundheitsschutz (Lockdowns) auch Folgen etwa im Bildungsbereich mitbedacht werden.
Katastrophenschutzübungen sollten lokale, regionale und überregionale Stakeholder involvieren und unter Einbeziehung eines gestärktes Öffentlichen Gesundheitsdienstes sektorenübergreifend durchgeführt werden. Die aus LÜKEX-Übungen gewonnenen Erfahrungen sollen wissenschaftlich analysiert und soweit möglich transparent gemacht werden. Auf Basis gewonnener Erkenntnisse sollten Notfallpläne regelmäßig aktualisiert werden. Aufwendige Notfallübungen, in die Krankenhäuser einbezogen werden, bedürfen einer auskömmlichen Finanzierung durch GKV und PKV.
Mehr internationale Kooperation und Koordination
Internationale Kooperation – innerhalb der EU und ihren Institutionen – sowie außereuropäisch sollte ausgebaut und auf Krisen vorbereitet werden. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die EU selbst keine hoheitlichen Funktionen beim Gesundheitsschutz wahrnehmen, sondern nur koordinieren, fördern und unterstützen kann. Dies geschieht durch:
- das Europäische Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten ECDC durch Überwachung, Aufklärung, wissenschaftliche Beratung und Gesundheitskommunikation; hier ist auch das Frühwarn- und Reaktionssystem angesiedelt, das schwerwiegende grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren übermittelt;
- den Gesundheitssicherheitsausschuss, der nationale Reaktionen auf schwerwiegende grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren koordiniert,
- die Europäische Gesundheitsunion, die auf eine verstärkte Krisenvorsorge und -reaktion abzielt und die 2020 beschlossen wurde;
- die Möglichkeit, einen EU-Notstand auszurufen; dazu gehört ein verbindlicher EU-Vorsorge- und Reaktionsplan für Gesundheitsrisken und Pandemien;
- eine neue EU-Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (Health Emergency Preparedness and Response Authority, HERA); HERA soll schwere grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren schneller erkennen und. darauf reagieren; sie überwacht die gesamte Wertschöpfungsketten von der Konzeption bis zur Bevorratung und Verteilung von Impfstoffen, relevanten Arzneimitteln und der notwendigen Rohstoffe. Geplant ist ein unionsweites Netz für klinische Prüfungen, Plattformen für den Datenaustausch und den Aufbau von Reaktionskapazitäten wie Intensivbetten, Schutzausrüstung und geschultem Personal; dazu gehört auch die Sicherstellung notwendiger industrieller Kapazitäten. Budgetiert sind 580 Millionen Euro für Impfstoffe und antivirale Mittel sowie weitere 300 Millionen Euro für die Erforschung und Entwicklung medizinischer Gegenmaßnahmen und innovative Technologien gegen neue Bedrohungen;
- die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) zur beschleunigten Zulassung krisenrelevanter Arzneimittel und für die Koordination klinischer Prüfungen;
- den Europäische Gesundheitsdatenraum, mit dem Wissenschaftler, Innovatoren und öffentliche Einrichtungen Zugang zu allen in der EU verfügbaren interoperablen Gesundheitsdaten aus elektronischen Patientenakten oder Registern erhalten können;
- das Gesundheitsförderprogramm mit einem Volumen von 5,3 Milliarden Euro.
Diese Projekte sind teilweise gesetzlich beschlossen oder politisch bereits konsentiert. Entscheidend kommt es nun auf ihre Umsetzung an.
Die nächste Pandemie kommt sicher – und erfordert Vorbereitung
Im Unterschied zum globalen Klimawandel und dessen Gesundheitsrisiken für die Bevölkerung – Krankheit und Übersterblichkeit durch häufige und anhaltende Hitzeperioden, zunehmende Wasserknappheit, Ausbreitung von Krankheitserregern aus tropischen und subtropischen Regionen nach Mitteleuropa – ist bei Pandemien unbekannt, wann sie eintreten werden und was der Auslöser sein könnte. Als sicher gilt nur, dass es die nächste Pandemie geben wird. Diskutiert wird gegenwärtig darüber, wie das Risiko zu beurteilen ist, dass das Vogelgrippevirus H5N1 so mutiert, dass es eine Gefahr für die Menschen wird. Bislang war das nur in wenigen Fällen so: insgesamt zählte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in den vergangenen 20 Jahren 868 Menschen, die sich mit diesem Virus infizierten, von denen 457 starben. Wissenschaftler sind nun allerdings alarmiert, weil seit 2022 und Anfang 2023 auch Säugetiere – Nerze auf einer Farm in Spanien und Seelöwen an der Küste Perus – mit H5N1 infiziert wurden. Offenbar ist dem Virus eine Mutation gelungen, die auch für Säugetiere und damit auch potentiell für den Menschen gefährlich werden kann. Der Chief-Scientist der WHO, Professor Jeremy Farrar, mahnt dringend dazu, auf die nächste Pandemie vorbereitet zu sein – auch wenn sie vielleicht so nie eintritt.
Quellen:
Sachverständigenrat für Gesundheit und Pflege: Resilienz im Gesundheitswesen. Wege zur Bewältigung künftiger Krisen; Januar 2023
Organization für Economic Cooperation and Developement (OECD): Ready for the Next Crisis? Investing in Health Systems Resilience; März 2023.