Bekämpfungsprogramme gegen armutsassoziierte vernachlässigte Tropenkrankheiten (NTDs)
Mit armutsassoziierten vernachlässigten Tropenkrankheiten (Neglected Tropical Diseases, NTDs) werden einige Infektionskrankheiten bezeichnet, die vor allem bei der ärmeren Bevölkerung in Schwellen- und Entwicklungsländern auftreten und dort zwar weniger Todesopfer fordern als die "Großen Drei" (Malaria, Tuberkulose und HIV/AIDS), aber dennoch eine große Krankheitslast mit sich bringen. Ihr Verbreitungsgebiet geht mitunter über die Tropen hinaus.
In der Summe ist von ihnen rund ein Siebtel der Erdbevölkerung betroffen (manche Schätzungen gehen sogar von einem Sechstel aus). Für rund eine halbe Million Menschen jährlich sind NTDs die Todesursache, aber darüber hinaus sind sie auch ein wesentlicher Grund für Behinderung, körperliche Entstellung, Stigmatisierung sowie Einbuße an Leistungsvermögen in der Schule, am Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. Es gibt auch enge Zusammenhänge zwischen NTDs und Mangelernährung; beispielsweise, weil einige Wurmerkrankungen zu verminderter Nährstoffaufnahme und Eisenmangel führen, aber auch, weil Menschen aus Angst vor Ansteckung den Ackerbau in Gebieten aufgeben, in denen man besonders ansteckungsgefährdet ist.
Mit Medikamenten gegen armutsassoziierte Tropenkrankheiten
2020er-Jahre
2020 Etappenziel
Bis zu diesem Jahr sollen zehn armutsassoziierte Tropenkrankheiten regional eliminiert oder eingedämmt sein. Die Bekämpfung solcher Krankheiten wird aber weitergehen.
2010er-Jahre
2015 Rekord
Mit Arzneimitteln für mehr als 1,5 Milliarden Behandlungen wird ein neuer Jahres-Rekordwert bei gespendeten Medikamenten gegen armutsassoziierte Tropenkrankheiten erreicht.
2012 London Declaration
Regierungen, Organisationen und Unternehmen vereinbaren eine partnerschaftliche Ausweitung der Bekämpfung von zehn armutsassoziierten Tropenkrankheiten; beteiligt sind die Unternehmen Abbott (heute AbbVie), AstraZeneca, Bayer, Becton Dickinson, Bristol-Myers Squibb, Eisai, Gilead Scienes, GlaxoSmithKline, Janssen (Johnson & Johnson), Merck, MSD, Novartis, Pfizer und Sanofi
2011 WIPO Re:Search
Gründung von WIPO Re:Search. Diese Organisation fördert den Austausch von Forschungsergebnissen, Technologien und Lizenzen zwischen Firmen und Forschungseinrichtungen, u. a. zu armutsassoziierten Tropenkrankheiten.
2010 Lungenegel-Befall (Paragonimose)
Beginn des WHOProgramms gegen Paragonimose; Novartis spendet das Medikament
Deshalb bedeutet die Bekämpfung der NTD und die Heilung von Betroffenen nicht nur die Überwindung von individuellem Leid, sondern trägt auch zu anderen Entwicklungszielen bei, beispielsweise
- zu einem besseren Ernährungsstatus,
- zu Ausbildung und Arbeitsvermögen,
- zur Entlastung von Angehörigen von Pflegeaufgaben,
- zur "Befreiung" von Ackerland (insbesondere im Fall der Bekämpfung der Flussblindheit),
- zu einem geminderten Risiko bei anderen Krankheiten oder bei einer Geburt,
- zu mehr Gesundheitsfürsorge von Staaten für vernachlässigte Bevölkerungsgruppen, also einer Stärkung der dortigen Gesundheitssysteme.
Die Liste vernachlässigter Krankheiten ist lang. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat einige von ihnen priorisiert (Stand 2017):
- Buruli Ulcus (B)
- Trachom (B)
- Lepra (B)
- Frambösie (B)
- Dengue-Fieber (V)
- Chikungunya (V)
- Tollwut (V)
- Afrikanische Schlafkrankheit (E)
- Chagas-Krankheit (E)
- Leishmaniosen (E)
- Myzetom, Chromoblastomykose und andere innere Mykosen (P)
- Bilharziose (Schistosomiasis) (W)
- Bodenübertragene Wurmerkrankungen (Spul-, Haken- und Peitschenwürmer) (W)
- Echinokokkose (W)
- Flussblindheit (Onchozerkose) (W)
- Drakunkulose (Dracontiasis, Befall mit Guineawurm = Medinawurm)
- Lebensmittel-übertragene Wurmerkrankungen (W)
- Lymphatische Filariose (insbesondere Elephantiasis) (W)
- Lebensmittel-übertragener Trematoden-Befall (z.B. Befall mit Leber- oder Lungenegeln = Fasziolose und Paragonimose) (W)
- Zystizerkose (Blasenwurm) (W)
- Krätze (Scabies) (I)
- Bisse von Giftschlangen (R) (I)
Die Erreger bzw. Verursacher sind B = Bakterien, V = Viren, E = Einzeller, P = Pilze, W = Würmer, I = Insekten oder R = Reptilien.
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"COLLABORATING TO END NEGLECTED TROPICAL DISEASES: CATALYZING INNOVATION AND PARTNERSHIPS"
Weltweit leiden mehr als 1 Milliarde Menschen an NTDs; rund die Hälfte von ihnen sind Kinder. Meist sind arme, „vernachlässigte“ Bevölkerungsgruppen in einem Land betroffen. Manche NTDs kommen aber auch außerhalb tropischer Länder vor.
Welche Fortschritte in der Bekämpfung von NTDs wurden in den vergangen Jahren erreicht? Der Bericht gibt Antworten darauf und zeigt auch auf, welchen Beitrag forschende Pharmaunternehmen leisten.
Bekämpfungsprogramme gegen NTDs
Seit vielen Jahren wird versucht, NTDs zu bekämpfen. Die WHO hat hier eine führende Rolle und kooperiert dafür mit Regierungen, Hilfsorganisationen, medizinischen Einrichtungen vor Ort und Pharma-Unternehmen. Die Programme sind dabei meist sowohl auf Behandlung als auch auf Prävention weiterer Infektionen wie auch Aufklärung der Bevölkerung über die Krankheiten ausgerichtet.
Pharma-Unternehmen tragen insbesondere mit gespendeten Medikamenten zu den Bekämpfungsprogrammen bei. Das erste Arznei-Spendenprogramm wurde schon 1987 begonnen, viele weitere sind im Laufe der Jahre dazu gekommen. Die Spendenprogramme haben in vielen Fällen einen großen Umfang; manche sind sogar hinsichtlich der Liefermenge und auch im Zeithorizont unlimitiert.
Im Jahr 2012 wurden diese Programme noch einmal ausgeweitet, als sich zahlreiche forschende Pharma-Unternehmen aus Industrienationen im Rahmen der „London Declaration“ verpflichteten, an der Ausrottung oder Eindämmung von zehn sogenannten vernachlässigten tropischen Krankheiten bis 2020 mitzuwirken: lymphatische Filariose, Lepra, afrikanische Schlafkrankheit, Trachom, Bilharziose, bodenübertragene Wurmkrankheiten, Chagas, viszerale Leishmaniose, Flussblindheit und Medina-Wurm-Befall.
Partner der London Declaration waren und sind die Bill & Melinda Gates Foundation, die WHO, internationale Gesundheitsorganisationen, die Weltbank, mehrere Regierungen und Unternehmen, darunter die Pharma-Unternehmen AbbVie, AstraZeneca, Bayer, Bristol-Myers
Squibb, Eisai, Gilead Sciences, GlaxoSmithKline, Janssen, Merck, MSD, Novartis, Pfizer und Sanofi.
Die Unternehmen machten dabei Zusagen für Medikamentenspenden für ca. 14 Milliarden Behandlungen, verstärkte Arzneimittelforschung und die Förderung von Infrastrukturmaßnahmen und Gesundheitskampagnen. Zu marktüblichen Konditionen gekauft, hätten die zugesagten Medikamente einen Wert von 19 Milliarden US-Dollar.
Medikamente mit folgenden Wirkstoffen werden von forschenden Pharma-Unternehmen für die Bekämpfung von NTD gespendet:
- Afrikanische Schlafkrankheit: Eflornithin (Sanofi), Nifurtimox (Bayer), Suramin (Bayer), Pentamidin (Sanofi), Melarsoprol (Sanofi) u. a.
- Bilharziose: Praziquantel (Merck)
- Boden-übertragene Würmer: Mebendazol (Janssen), Albendazol (GSK), Triclabendazol (Novartis)
- Chagas: Nifurtimox (Bayer)
- Flussblindheit: Ivermectin (MSD)
- Leber- und Lungenegel-Befall (Fasziolose und Paragonimose): Triclabendazol (Novartis)
- Lymphatische Filariose: Albendazol (GSK), Ivermectin (MSD), DEC (Eisai)
- Leishmaniose: liposomales Amphotericin B (Gilead Sciences)
- Lepra: Clofazimin/Rifampicin/Dapson (Novartis)
- Trachom: Azithromycin (Pfizer)
Von Generika-Herstellern wurden für NTD-Programme bislang keine Medikamente gespendet.
Weltweit leiden mehr als 1,5 Milliarden Menschen an vernachlässigten Tropenkrankheiten, manchmal an mehreren zugleich. Seit 2016 wurden im Rahmen der gemeinschaftlichen NTD-Bekämpfung jährlich etwa eine Milliarde Betroffene erreicht. Eine Milliarde Betroffene wurden jedoch im Jahr 2016 behandelt. Die aktuellsten Fortschrittsberichte zur gibt es bei der Initiative "Uniting to Combat NTDs".
Flächendeckende Präventivbehandlung oder gezielte Behandlung Erkrankter
Bei der Bekämpfung der NTDs werden je nach Krankheit unterschiedliche Strategien verfolgt: entweder die der flächendeckenden Präventivbehandlung oder aber die der gezielten Behandlung der tatsächlich Erkrankten.
Flächendeckende Präventivbehandlungen (in der Fachliteratur meist "preventive chemotherapy" (PCT) genannt, was nichts mit Chemotherapie gegen Krebs zu tun hat) sind dann sinnvoll, wenn die nötigen Medikamente nur einmal (oder kurzzeitig) angewandt werden müssen und so gut verträglich sind, dass es verantwortbar ist, sie jedem zu geben, der betroffen sein könnte, auch ohne die Infektion vorher im Einzelfall zu diagnostizieren. Es werden dann beispielsweise alle Menschen oder alle Schüler einer gefährdeten Region behandelt, die dazu bereit sind; den Infizierten nützt es, den Nicht-Infizierten schadet es nicht. Ein Beispiel für eine flächendeckende Präventivbehandlung ist das Programm Children without Worms (siehe Kasten).
Seit einiger Zeit werden im Rahmen der nationalen Bekämpfungsstrategien der betroffenen Staaten mehrere krankheitsbezogene Behandlungsprogramme zusammengefasst; So werden potentiell betroffene Menschen gleich präventiv gegen fünf Krankheiten behandelt.
Herausforderungen bei der PCT sind zum einen die Organisation der Behandlungsaktionen – es müssen dafür viele Menschen im ländlichen Raum erreicht werden. Das ist schwierig, weil gerade die ländlichen Regionen meist nur unzureichend medizinisch versorgt sind. Die Behandlungsprogramme stützen sich in solchen Fällen oft auf die örtlichen Strukturen und Eigenleistung der Dorfgemeinschaften („community based approach“).
Eine andere Herausforderung besteht darin, die Menschen nach einer PCT-Maßnahme möglicht lange vor einer Wieder-Infektion zu bewahren. Hierfür ist es ganz entscheidend, die Behandelten über ihre Möglichkeiten zur Risikosenkung aufzuklären. Parallel dazu können die Überträger (z.B. Mücken) bekämpft und die hygienischen Verhältnisse verbessert werden.
Beispiel Children without Worms
Children without Worms ist ein Programm gegen boden-übertragene Würmer, das im Rahmen einer Public-Private Partnership unter der Mitwirkung der Weltgesundheitsorganisation WHO und von nationalen Gesundheitsbehörden, NGOs und Unternehmen vorangetrieben wird. Die beteiligten Pharma-Unternehmen Janssen und GlaxoSmithKline spenden die benötigten Medikamente.
Ziel ist, Kinder von Spul-, Haken- und Peitschenwürmern zu befreien, die im Darm leben, was zu Blutarmut, Unterernährung und Wachstumsstörungen, in manchen Fällen auch zum Tode führt. Es wird geschätzt, dass mehr als 1,2 Milliarden Menschen an Spul-, mehr als 700 Millionen an Haken- und mehr als 800 Millionen an Peitschenwürmern leiden. Sie alle werden über menschliche Exkremente übertragen, was in Gegenden ohne geordnete sanitäre Einrichtungen bedeutet, dass die Ansteckung über den Boden stattfindet.
Children without Worms organisiert Präventivbehandlungen für Klein- und für Schulkinder in betroffenen Regionen. Ohne Prüfung der individuellen Befallssituation erhalten alle Kinder Medikamente, die die Würmer abtöten.
Im Rahmen des Programms werden aber auch Maßnahmen gegen erneute Ansteckung gefördert; ferner setzt sich das Programm für mehr Engagement für bessere sanitäre Verhältnisse ein.
2012 konnten laut WHO ca. 29 % aller Kleinkinder und 37 % aller Schulkinder in Gefährdungsgebieten behandelt werden.
Bei einigen anderen NTDs ist eine Präventivbehandlung nicht angezeigt, weil die Therapie nebenwirkungsreich oder langwierig ist, was Gesunden nicht zuzumuten ist. Dann müssen die Programme auf das Finden und gezielte Behandeln Erkrankter ausgerichtet werden (auf das sogenannte "intensified disease management", kurz IDM). So geht die WHO mit ihren Partnern beispielsweise bei der Bekämpfung von Schlafkrankheit und Chagas vor.
In der Demokratischen Republik Kongo beispielsweise fahren dabei Ärzteteams systematisch von Dorf zu Dorf und untersuchen alle Dorfbewohner, die dazu bereit sind, auf mögliche Infektionen. Auf diese Weise wurde im Falle der afrikanischen Schlafkrankheit die Prävalenz von geschätzt 200.000 Infizierten im Jahr 1996 auf heute weniger als 5.000 (dokumentierte Fälle 2016: 2.184 – damit der historisch niedrigste Stand) reduziert.
Das Potenzial Deutschlands bei der Bekämpfung der vernachlässigten Tropenkrankheiten
In der Studie "Die integrierte Umsetzung der Bekämpfung der vernachlässigten Tropenkrankheiten - Potenzial Deutschlands" betonen die Autoren von Kickbusch Health Consult und CPC Analytics, dass sich die Bekämpfung vernachlässigter Tropenkrankheiten von eng fokussierten Programmen hin zu intergrierten Programmen entwickelt hat, die gleichzeitig mehrere Gesundheitsziele im Blick haben. Angesichts dieser veränderten Aufgabenstellung sehen sie ein Potenzial für Deutschland, sich noch stärker als bisher einzubringen. Schließlich habe das Land langjährige Erfahrung bei der Stärkung von Gesundheitssystemen und sozialen Sicherungssystemen.
Fazit 2021: Guter Auftakt, neue Strategie
Das ursprüngliche Ziel der London Declaration, zehn NTDs in weniger als zehn Jahren unter Kontrolle zu bringen oder ganz zu eliminieren, wurde nur zum Teil erreicht. Ein Grund dafür sind defizitäre Strukturen in vielen von NTD betroffenen Staaten, die immer wieder verhindern, dass die Medikamente tatsächlich zum Patienten gelangen. Diese Probleme hat auch die WHO erkannt und im Januar 2021 eine NTD-Roadmap bis 2030 beschlossen. Ihr neuer Fahrplan, die „NTD 2030 Roadmap“, setzt auf eine Integration der NTD-Bekämpfung in die nationalen und regionalen Gesundheitssysteme, eine eng getaktete Fortschrittskontrolle und die verstärkte Kooperation aller Akteure. Zu diesem Kreis gehören weiterhin die Partner der London Declaration, einschließlich forschender Pharma-Unternehmen.