Global Health - Antworten auf globale Krisen
Gesundheit muss global, interdisziplinär und als Politikfeld übergreifend verstanden werden – das ist aktuell die wichtigste, aber auch anspruchsvollste Lehre aus der Covid-19-Pandemie. Zwei Tage lang hat sich die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina Ende September auf ihrer Jahrestagung in Halle mit den Herausforderungen von „Global Health“, den Zusammenhängen zwischen der Gesundheit von Mensch und Tier, der Bedeutung sozioökonomischer Ungleichheit, den Auswirkungen des Klimawandels und der rasanten Urbanisierung in Asiens Megastädten beschäftigt.
Expert:innen hatten seit langem damit gerechnet: eine weltweite Pandemie mit globalen Auswirkungen auf Gesundheit, Wirtschaft und Gesundheitssysteme – verbunden mit der Notwendigkeit, unter großer Unsicherheit in das Leben der Menschen und ihre Freiheit einzugreifen.
Die Bilanz ist ernüchternd bis erschreckend: Auch wenn Corona zu neuen Anstrengungen für Investitionen in Public und Global Health geführt hat, bleibt die Frage, ob dies angesichts neuer Krisen – Ukraine, Energieversorgung – nachhaltig bleibt. Zumal das Public Health-Instrumentarium, das unter Real-World-Bedingungen in den unterschiedlichsten Gesellschaften eingesetzt wird, nur sehr eingeschränkt auf seine Wirksamkeit evaluiert werden kann.
Zahlen zur Corona-Pandemie
Stand Oktober 2022: Weltweit bislang 617 Millionen erfasste Infektionen, 6,5 Millionen Tote, in Deutschland 150.000 Tote. Eine Übersterblichkeit, die in den USA zu einer Minderung der Lebenserwartung von 1,6 Jahren bei Männern und 2,2 Jahren bei Frauen geführt hat, in Deutschland 0,4/0,5 Jahre.(1)
Fast alle Regierungen reagierten in der ersten Phase mit Lockdowns, die weite Teile der Wirtschaft einbrechen ließen und zu staatlichen Unterstützungsmaßnahmen in bislang nie gekanntem Ausmaß führten. Die Kurse an den internationalen Aktienmärkten brachen bis zu 40 Prozent ein und haben sich teilweise (UK, Italien) bis heute nicht erholt.
Vertrauen, Unsicherheit und unzureichendes Wissen
In derartigen Krisen, so Professor Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), ist Vertrauen das wichtigste Kapital eines politischen und gesellschaftlichen Systems, geschaffen durch Transparenz, kohärente Information, Verantwortlichkeit und Berechenbarkeit. Eine zentrale Rolle dabei spielt effektive Kommunikation. Erstmals in einer Pandemie standen neben den traditionellen Medien auch Social-Media-Plattformen zur Verfügung, die sich vor allem die Wissenschafts-Community zunutze machte. Die Anforderungen an eine kohärent empfundene Kommunikation aller war kaum zu erfüllen: wegen unzureichenden Wissens zu Pandemiebeginn, vorläufigen und unsicheren Erkenntnissen im weiteren Verlauf, widersprüchlichen Daten sowie Meinungs- und Wissenschaftspluralismus in freien Gesellschaften.
In einer Krise müssen Daten aber für Entscheidungsträger und ihre Berater verfügbar sein.»
Unvorbereitet traf es den Öffentlichen Gesundheitsdienst: personell seit Jahren ausgezehrt, kommunikationstechnisch auf dem Stand der Fax-Technologie der Siebzigerjahre. „In einer Krise müssen Daten aber für Entscheidungsträger und ihre Berater verfügbar sein“, postuliert Wieler. Überkommene Hürden zur Datengenerierung und -übermittlung müssten überwunden werden, die Nutzung maschinenlesbarer Daten und Künstlicher Intelligenz müsse im Public Health-Sektor realisiert werden. Der Bund habe auf diese Erfordernisse rasch mit dem Programm für den Öffentlichen Gesundheitsdienst reagiert: Vier Milliarden Euro stehen bis 2026 zur Verfügung, um 5.000 unbefristete neue Vollzeitstellen zu schaffen und in die Digitalisierung zu investieren.
Neue Impfstoffe – der Game-Changer
Ein entscheidender Game-Changer in der Bewältigung der Pandemie war die Entwicklung neuer Impfstoffe binnen weniger Monate bis zur Marktreife und Zulassung im Dezember 2020. Seit August/September 2022 ist bereits die zweite Generation gegen die Omikron-Varianten BA4/BA5 in den USA und Europa zugelassen. Pfizer/BioNTech arbeiten derzeit an bivalenten Impfstoffen.
Zugleich wurden weltweit gigantische Produktionskapazitäten aufgebaut, die es möglich gemacht haben, bis zum 4. September mehr als 12,6 Milliarden Impfstoff-Dosen bereitzustellen, berichtete Stanford-Professorin und Medical-Chief Officer von Pfizer Aida Habtezion. Parallel dazu wurde seit dem Frühjahr 2020 Paxlovid (Nirmatrelvir/Ritonavir) als Therapeutikum entwickelt und Ende 2021 zugelassen.(2)
Die Studiendaten zeigen, dass sich das Risiko für Hospitalisierung/Tod bei einer Covid-19-Infektion um 89 Prozent senken lässt. Der Erfolg wurde durch Bedingungen und Instrumente erreicht, die die Forschung der pharmazeutischen Industrie künftig prägen könnten, so Habtezion: Fokussierung auf den größten Unmet Medical Need, auf Breakthrough-Potential und Zeitersparnis. Inzwischen wurden 180 Ländern Impfstoffe zur Verfügung gestellt. Das Globlal Health Innovation Grants-Programm von Pfizer unterstützt 20 Unternehmen in Entwicklungs- und Schwellenländern.
Covid-19 und soziale Ungleichheit
Covid-19 hat darüber hinaus massive soziale Ungleichheiten offengelegt. Professor Clare Bambra, Public-Health-Forscherin an der Universität von Newcastle (UK), hat dies untersucht. Beispiel Covid-19-Mortalitätsraten: Sie lagen von März bis Mai 2021 in Schottland bei 86,5 pro 100.000 Einwohner im unteren Einkommensquintil, aber nur bei 38,2/100.000 im obersten Einkommensquintil. Eine ähnliche Disparität wurde für den Zeitraum März bis Juli 2021 für Wales bestätigt. Darüber hinaus spielt die Ethnie eine Rolle: So war die Covid-Mortalität unter der britischen schwarzen Bevölkerung mit 564/100.000 viermal so hoch wie unter der weißen Bevölkerung, bei Menschen mit asiatischen Wurzeln lag sie mit 388/100.000 dreimal so hoch. Das sind Phänomene, die nicht neu sind, sondern bereits bei der Spanischen Grippe 1918 in Norwegen, Schweden und den USA beobachtet worden sind.
Die Ursachen der Ungleichheit sind überall ähnlich und persistieren: Benachteiligte Gruppen sind besonders betroffen von
- einer höheren Krankheitslast mit nicht übertragbaren Krankheiten wie KHK, Diabetes;
- einem geschwächten Immunsystem aufgrund anhaltend ungesunden Lebensstils und schlechter Umweltbedingungen;
- Arbeit in Sektoren mit einem höheren Expositionsrisiko für Infektionen;
- beengten Wohnverhältnisse, die die Übertragung von Infektionen begünstigen.
Aber auch die Immunisierungschancen durch Impfungen sind ungleich verteilt, stellte Clare Bambra fest: Im wohlhabenden Richmondshire haben 70,3 Prozent der Bevölkerung eine dritte Dosis erhalten, im armen Salford nur 47,3 Prozent.
Grundlegende Veränderungen sind möglich – erfordern aber Visionen und Megaprojekte. In den USA waren es in der Präsidentschaft von Lyndon B. Johnson (1963 – 69) die Schaffung von Medicare und Medicaid, der „War on Poverty“ und der Civil Rights Act, mit dem die Rassendiskriminierung verboten wurde. In Deutschland war es die Wiedervereinigung, die durch zunehmenden Wohlstand in den neuen Ländern und die Übernahme der West-Sozialversicherung sowie der Grundsanierung der medizinischen Versorgung binnen 15 Jahren zu einer starken Annäherung der Lebenserwartung in Ost und West führte.
Umwelt- und Tiergesundheit: Risiken für Infektionen
Zurück zu Medizin und Biologie: Public und Global Health, so der Präsident des Friedrich-Löffler-Instituts für Tiergesundheit(3)
, Professor Thomas Mettenleiter, erfordert zwingend die Einbeziehung der Tierwelt. Jedes Jahr erkranken allein 2,4 Milliarden Menschen an Zoonosen, für 2,2 Millionen Menschen mit tödlichem Ausgang. 60 Prozent der bekannten Infektionskrankheiten haben laut Mettenleiter einen tierischen Ursprung, mindestens drei Viertel der neu auftretenden Infektionskrankheiten sind Zoonosen. Eine wirksame Bekämpfung erfordere einen One Health-Ansatz unter Einbeziehung der Tiergesundheit und der Umweltbedingungen.
Dies gilt insbesondere auch für parasitäre Erkrankungen, die am stärksten vernachlässigten Krankheiten insbesondere von Kindern in Entwicklungsländern, so die Veterinärmedizinerin Professor Susanne Hartmann von der TU Berlin. Die Übertragungswege: mangelnde Sanitäreinrichtungen, Defäkieren im Freien, Düngung mit menschlichen und tierischen Fäkalien, kontaminierte Lebensmittel und verschmutztes Wasser. Die Folgen sind chronische Erkrankungen, häufige Reinfektionen, schlechte körperliche und menschliche Entwicklung mit gravierenden Einflüssen auf Arbeits- und Bildungsfähigkeit. Es ist ein Teufelskreis aus Armut, Unter- und Fehlernährung, schlechten Wohnverhältnissen, hoher Infektionswahrscheinlichkeit, chronischer Krankheit „mit extrem nachteiligen Auswirkungen auf die menschliche und wirtschaftliche Entwicklung“, so Hartmann.
Wirksam im Kampf gegen Parasiten sind Entwurmungsprogramme. So hat der US-Ökonom und Armutsforscher Michael Kremer, Wirtschaftsnobelpreisträger von 2019, herausgefunden, dass schon ein dreijähriges konsequentes Entwurmungsprogramm mittelfristig zu einer Steigerung des Einkommens von elf Prozent führen kann. Es wäre eine Option, den Teufelskreis von Armut und Krankheit zu durchbrechen.
Einschränkend weist die Veterinärmedizinerin Hartmann allerdings darauf hin, dass Arzneimittel als Folge zunehmender Resistenzen von Helminthen (Sammelbegriff für mehrzellige endoparasitäre Organismen, Würmer) beizeiten unwirksam werden könnten. Dringend notwendig sei Forschung an neuen Wirkstoffen, die beispielsweise den Immunmodulations-Mechanismus nutzen, mit dem Helminthen ihren Wirt schonen, um ihn möglichst lange zu nutzen. Wirklich kausal aber wäre eine Verbesserung der Lebens- und Umweltbedingungen, insbesondere sauberes Trinkwasser, Lebensmittelhygiene und sanitäre Infrastruktur.
Megastädte – Brutstätten von Antibiotikaresistenzen
Ein Problem der besonderen Art wegen seiner Komplexität ist das dysfunktionale Wachstum der Megastädte in Südostasien, das die Kölner Geografin Professor Frauke Kraas mit ihrem Team auch vor Ort analysiert hat . Ein besonders krasses Beispiel ist Shenzhen im Hinterland von Hongkong. Vor 50 Jahren noch eine Mittelstadt mit 58.000 Einwohnern, entwickelte sich die Siedlung zu einer Megastadt, die 2025 über elf Millionen Einwohner haben wird – umgeben von einer Agglomeration weiterer Megastädte von Hongkong bis Guangzhou mit insgesamt 120 Millionen Einwohnern, von denen mehr als ein Drittel Arbeitsmigranten sind. Die Dysfunktionalität des ungehemmten Wachstums wird charakterisiert vom Verlust traditioneller Familienmuster und kleinräumiger Unterstützungsnetze, Anonymisierung, mangelhafter Gesundheits- und Sozialinfrastruktur, Kriminalität und Umweltzerstörung. Neben massiven psychischen Schäden produzieren diese Megastädte mit einer ungeregelten, unkontrollierten und weitgehend privatisierten Medizin (teilweise auch Scharlatanerie) extreme Ungleichheit und erhebliche Risiken wie die Entstehung und Verbreitung von Infektionskrankheiten wie SARS. Frauke Kraas: „Der zunehmende Handel mit minderwertigen oder gefälschten Arzneimitteln führt dazu, dass asiatische Megastädte das Epizentrum globaler Resistenzen gegen antimikrobielle Medikamente sind – und auch Exporteure hochresistenter Erregerstämme.“
Um die genannten Herausforderungen zu meistern, muss Gesundheit global und eben auch interdisziplinär betrachtet werden – das hat die Covid-19-Pandemie gezeigt. Dafür muss Global Health als Politikfeld übergreifend verstanden werden.