GKV-Finanzentwicklung stellt erhöhten Zwangsrabatt infrage
Im August 2010 erhöhte das Bundesgesundheitsministerium den Zwangsrabatt, den Arzneimittelhersteller gegenüber den Krankenkassen auf innovative Medikamente gewähren müssen, von 6 auf 16 Prozent. In Kombination mit einem Preismoratorium wollte der Gesetzgeber damit dem vor einem Jahr prognostizierten Finanzierungsdefizit in Höhe von 11 Milliarden Euro in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) entgegensteuern. Laut aktueller Prognose des GKVSchätzerkreises ergibt sich in diesem Jahr aber stattdessen ein satter Überschuss. Damit ist der erhöhte Zwangsrabatt heute nicht mehr zu rechtfertigen.
Vor einem Jahr rechnete der GKV-Schätzerkreis aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Ausgangslage sowie der seit Jahren steigenden Ausgaben für 2011 noch mit einem milliardenschweren Finanzierungsdefizit in der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Experten fürchteten insbesondere hohe Zuwachsraten für innovative Arzneimittel. Als Antwort erhöhte der Gesetzgeber 2010 zum einen den einheitlichen Beitragssatz um 0,6 Prozentpunkte, um die Einnahmenseite der GKV zu stärken. Zum anderen führte die Bundesregierung zahlreiche Maßnahmen zur Begrenzung der Ausgabenentwicklung ein. Dabei lag der Schwerpunkt auf der Neuordnung des Arzneimittelmarktes, bei der es eigentlich um eine wettbewerbliche Preisfindung geht. Im Vorfeld dessen setzte der Gesetzgeber aber auf eine dirigistische Preisregulierung für innovative Medikamente. Hierzu zählt der um 10 Prozentpunkte erhöhte Zwangsrabatt in Kombination mit einem Preismoratorium. Allein die Erhöhung des Herstellerrabattes verspricht den Krankenkassen Einsparungen in Höhe von mehr als einer Milliarde Euro jährlich.
Doch die jüngste Prognose des Schätzerkreises zeichnet ein völlig neues Bild: Der Gesamtsaldo für den Gesundheitsfonds und die GKV wird in diesem Jahr voraussichtlich plus 8,6 Milliarden Euro betragen und nicht wie ursprünglich erwartet minus 11 Milliarden Euro. Die positiven Entwicklungen von Beschäftigung und Pro-Kopf-Löhnen werden laut Schätzerkreis in diesem Jahr für einen Einnahmenüberschuss von 4,4 Milliarden Euro sorgen. Damit steigen zwar nicht automatisch die Zuweisungen an die einzelnen Krankenkassen: Denn zum einen ist die gesetzliche Reserveverpflichtung zu beachten und zum anderen sind in der Rücklage bereits jene Mittel enthalten, die bis zum Jahr 2014 zur Kompensation unzumutbarer Belastungen durch Zusatzprämien vorgesehen sind. Aber selbst dann bleibt den Kassen in diesem Jahr voraussichtlich ein Überschuss von 1,4 Milliarden Euro. Und auch für das Folgejahr 2012 gehen die Experten im Bundesgesundheitsministerium von einem kleinen Einnahmenüberschuss aus – trotz eines unterstellten Ausgabenwachstums von 4,5 Prozent.
Diese positive Entwicklung hat mehrere Gründe: Zum einen spiegelt sich die konjunkturelle Erholung in den gestiegenen beitragspflichtigen Einnahmen der Krankenkassen wider – die vorausgegangenen Prognosen unterschätzten die wirtschaftliche Erholung deutlich. Zum anderen bleiben die Ausgabenzuwächse hinter den Erwartungen für das Jahr 2011 zurück. So stiegen die tatsächlichen Leistungsausgaben je Versicherten in der ersten Jahreshälfte um nicht einmal 3 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum – bei seiner Prognose aus dem Vorjahr ging der GKV-Schätzerkreis noch von einem Anstieg in Höhe von mehr als 4 Prozent aus. Die relativ niedrige Zuwachsrate resultiert vor allem aus Ausgabensenkungen bei den Arzneimitteln in Höhe von knapp einer Milliarde Euro. Die Aufwendungen für Medikamente sanken damit von Januar bis Juni 2011 je Versicherten um gut 6 Prozent gegenüber dem 1. Halbjahr 2010.
Die Bundesregierung wertet dies als Zeichen für den Erfolg des Arzneimittel-Sparpakets. Allerdings ist dieser Effekt zu relativieren:
- Der Rückgang um 6 Prozent gegenüber dem Vorjahr resultiert aus der Erhöhung des Zwangsrabattes. Schon ab dem zweiten Halbjahr 2011 werden aber die relativen Veränderungen allein aus technischen Gründen weniger spektakulär ausfallen. Denn prozentuale Veränderungen ergeben sich aus dem Vorjahresvergleich. Seit August 2011 werden dazu aber Werte herangezogen, die bereits unter dem erhöhten Rabatt zustande gekommen sind. Somit entfällt der Einführungseffekt im weiteren Jahresverlauf. Deshalb sollte die Diskussion nicht allein unter dem verengten Blick auf die Veränderungsraten geführt werden.
- Generell ist zu hinterfragen, ob die dirigistischen Maßnahmen, die als „Notbremse“ unter anderen Voraussetzungen eingeführt wurden, heute noch zu rechtfertigen sind. Denn während bei den Arzneimittelausgaben ein echter Sparbeitrag geleistet wurde, legten die Ausgaben für die stationäre Versorgung je Versicherten im ersten Halbjahr 2011 um 4,6 Prozent zu. Absolut ist der Anstieg bei der Krankenhausbehandlung damit größer als der Betrag, welcher bei den Arzneimitteln eingespart wurde. Vergleichbare Anstrengungen in anderen Ausgabenbereichen hätten zudem eine größere Hebelwirkung. Während der Anteil der Arzneimittelausgaben bei 17 Prozent liegt, fließt zum Beispiel ein Drittel aller Aufwendungen in die stationäre Versorgung.
- Aber nicht nur in Relation zu den anderen Ausgabenkategorien fällt die Arzneimittelversorgung positiv aus dem Rahmen. Dies gilt auch in Relation zur Entwicklung der Gesamteinnahmen, die vor allem aufgrund der günstigen Arbeitsmarkt- und Einkommensentwicklung um 4,4 Prozent höher liegen als noch im Vorjahr. Diese Entwicklung schwächt sich im nächsten Jahr voraussichtlich ab – die Schätzer rechnen nur noch mit einem Plus von 1,2 Prozent gegenüber diesem Vorjahr. Nimmt man aber die Einnahmenentwicklung zum Maßstab für das weitere Wachstum der GKVAusgaben, dann stellt sich die Frage, warum Zuwächse in anderen Ausgabenkategorien in diesem oder ähnlichem Umfang toleriert werden, aber nicht bei der medikamentösen Versorgung.
Das Bundesgesundheitsministerium ist laut dem fünften Buch Sozialgesetzbuch dazu verpflichtet, die dirigistischen Eingriffe in den Arzneimittelmarkt jährlich zu überprüfen. Im Fall des erhöhten Zwangsrabatts steht diese Überprüfung noch aus. Dagegen hat der Gesetzgeber zum Beispiel in der stationären Versorgung (Anstieg des Basisfallwerts) bereits der günstigen Entwicklung der beitragspflichtigen Einkommen Rechnung getragen. Will man hier nicht mit zweierlei Maß messen, so sollte auch im Fall des erhöhten Herstellerrabattes eine solche Anpassung an die positive gesamtwirtschaftliche Entwicklung erfolgen. Damit wird keineswegs die Neuordnung des Arzneimittelmarktes in Frage gestellt, aber aus guten Gründen die Verschärfung dirigistischer Preiseingriffe korrigiert.
Dies gilt umso mehr, als bei den forschenden Pharma-Unternehmen im Jahr 2010 eine deutliche Investitionszurückhaltung zu beobachten war. Von der Rücknahme der erhöhten Herstellerabgabe würde ein positives Signal an die Unternehmen ausgehen, mit dem die Bundesregierung der Bedeutung dieser Spitzentechnologie-Branche für den Standort Deutschland Rechnung trägt.
Quelle: Forschungsstelle Pharmastandort Deutschland im Institut der deutschen Wirtschaft Köln. Sie wird unterstützt vom Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa).
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