Mehrheit der Deutschen lehnt zusätzliche bürokratische Hürde für neue Arzneimittel ab
Eine Mehrheit der Deutschen von 60 Prozent lehnt nach einer aktuellen Umfrage des Emnid-Instituts eine zusätzliche Überprüfung neuer Arzneimittel nach dem eigentlichen Zulassungsverfahren ab.
Neue Arzneimittel sollen, so plant Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, künftig nach ihrer Marktzulassung einer zusätzlichen pharmaökonomischen Bewertung durch ein noch zu schaffendes "Institut zur Sicherung der Qualität in der Medizin" unterzogen werden. Auf Basis standartisierter Bewertungen soll dann entschieden werden, ob oder bis zu welchem Betrag neue Arzneimittel von der Gesetzlichen Krankenversicherung erstattet werden müssen.
Die Kritiker einer solchen "Kosten-Nutzen-Bewertung" von Arzneimittel-Innovationen ("Vierte Hürde") sind auch in den eigenen Reihen von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt in der Mehrheit: Unter SPD-Wählern widersprechen 52 Prozent den Plänen der SPD-Ministerin, bei den Wählern der Grünen sind es sogar 64 Prozent.
Die Ablehnung hat gute Gründe, denn wenn die Ministerin ihre Pläne realisiert,
- warten Kassenpatienten weiter auf die Behandlung mit Innovationen, obwohl diese bereits geprüft und zugelassen sind,
- wird der Rationierung von Arzneimitteln nach jeweiliger Kassenlage der Gesetzlichen Krankenversicherung Tür und Tor geöffnet,
- wird ein Amt für Einheitsmedizin geschaffen, bei dem aus ökonomischen Erwägungen individuelle, auf das Krankheitsbild des einzelnen Patienten abgestimmte Therapien das Nachsehen haben müssen undZudem geht die Idee einer allgemeingültigen Kosten-Nutzen-Bewertung für den deutschen Kassenpatienten an der wissenschaftlichen Entwicklung vorbei: So werden Mediziner mittels pharmakogenetischer Untersuchungen mit genetischen Markern voraussichtlich in wenigen Jahren in der Lage sein, die Wirksamkeit eines Arzneimittels bei einzelnen Patienten individuell vorauszusagen - die generalisierende Nutzenbewertung in einer bürokratischen Behörde würde damit ad absurdum geführt.
- wird die Wahrnehmung einer Zwei-Klassen-Medizin bei Kassenpatienten weiter verfestigt.
Wesentliches Motiv für die Ablehnung der Pläne Schmidts bei den Versicherten sei denn auch, so Emnid, der Wunsch nach schnellstmöglicher Verfügbarkeit neu entwickelter Medikamente: 82 Prozent der Befragten verlangen einen unmittelbaren Zugang zu neuen Arzneimitteln, sobald das Zulassungsverfahren abgeschlossen ist. Das Misstrauen gegen eine neue Bürokratie ist groß: 85 Prozent der Befragten wenden sich gegen eine Bevormundung der Ärzte bei der individuellen Medikation. Fast jeder Zweite (44 Prozent) befürchtet, dass künftig nicht mehr das beste, sondern das billigste Medikament verschrieben würde.
- wird ein Amt für Einheitsmedizin geschaffen, bei dem aus ökonomischen Erwägungen individuelle, auf das Krankheitsbild des einzelnen Patienten abgestimmte Therapien das Nachsehen haben müssen und
- wird der Rationierung von Arzneimitteln nach jeweiliger Kassenlage der Gesetzlichen Krankenversicherung Tür und Tor geöffnet,
Negative Erfahrungen in Großbritannien
- Zu den wenigen Ländern, die ein solches Institut haben, gehört Großbritannien. Dort wurde 1999 das "National Institute of Clinical Excellence" (NICE) eingerichtet. Die Erfahrungen mit NICE müssten hierzulande ein warnendes Beispiel sein:
Patientenprotest vor britischem Gesundheitsministerium: Nicht wert behandelt zu werden?Ein Jahr und länger mussten die Patienten in Großbritannien auf den Zugang zu Innovationen warten - auf ein neues Medikament gegen Alzheimerpräparat 12 Monate, gegen Schizophrenie 14 Monate, auf Innovationen gegen Lymphdrüsenkrebs und Brustkrebs 15 Monate, gegen Erblindung 16 Monate und auf neues Mittel gegen Multiple Sklerose (MS) sogar 30 Monate.
"Politisch motivierte Rationierung im Kleid einer klinischen Studie" warf der liberaldemokratische Abgeordnete Paul Burstow der Regierung während des Tauziehens um das MS-Mittel vor. Mehrfach kam es zu Patienten-Demonstrationen vor Parlament und Ministerien. BBC berichtete von "Angiffen desillusionierter Ärzte und wütender Patienten gegen NICE".
Protest gegen NICE-InstitutErst durch die Proteste rückte ins öffentliche Bewusstsein, was es für Patienten bedeuten kann, ein Medikament erst mit Monaten Verzögerung zu erhalten: Peter Cardy, Geschäftsführer der britischen Hilfsorganisation "MS Society", beklagte in einem BBC-Bericht, die "wirkliche Tragödie" sei, dass während der langen Wartezeit Patienten mit Multipler Sklerose in ein aussichtsloses Krankheitsstadium kämen: "Sie fallen mit zunehmender Behinderung aus der Kategorie der Patienten heraus, die noch mit Arzneimitteln behandelbar ist."
Die Bewertung des Nutzens von innovativen Medikamenten führte im NICE zu zynischen Rechenexempeln: 30.000 britische Pfund darf nach internen Vorgaben ein gewonnenes Lebensjahr ("quality adjusted life year") kosten. Auch die deutsche Ministerin und deren Behörde hätten irgendwann festzulegen, was ein Lebensjahr eines Kassenpatienten wert ist.
Dass sich Kosten-Nutzen-Bewertungen von Arzneimitteln in der Praxis schwieriger gestalten und länger dauern als am grünen Tisch der Politik geplant, verwundert Fachleute nicht, denn es gibt einen kaum lösbaren Zielkonflikt: Der Nutzennachweis setzt eine breite, mehrjährige Anwendung im Versorgungsalltag voraus. Solange die Erstattungsfähigkeit jedoch nicht attestiert ist, haben Arzneimittelhersteller kaum eine Chance, breit angelegte Langzeitstudien unter Alltagsbedingungen durchzuführen.
Download der Original-Studie von Emnid (PDF/177 KB)
VFA-Positionspapier "Staatliches Institut als Arzneimittel-Innovationshürde"
Unsere Mitglieder und ihre Standorte
Die Mitglieder des vfa repräsentieren mehr als zwei Drittel des gesamten deutschen Arzneimittelmarktes und beschäftigen in Deutschland rund 102.000 Mitarbeiter:innen.
Rund 21.000 davon sind für die Erforschung und Entwicklung von Arzneimitteln tätig. Allein in Deutschland investieren die forschenden Pharma-Unternehmen jährlich 9,6 Mrd. Euro in die Arzneimittelforschung für neue und bessere Medikamente. Dies entspricht etwa 42 Millionen Euro pro Arbeitstag.