Besondere Therapiesituationen brauchen besondere Bewertung
Neue Therapien werden zunehmend zielgerichteter, die Gruppe behandelbarer Patient:innen wird kleiner. Randomisierte kontrollierte Studien (RCT) sind hier aus praktischen und ethischen Gründen nicht immer durchführbar. Diese Dynamik muss auch bei der Bewertung des Zusatznutzens von Arzneimitteln (AMNOG) abbildbar sein, um die Abkopplung vom wissenschaftlichen Fortschritt in der Arzneimittelentwicklung zu vermeiden. Besondere Therapiesituationen, für die Studien höchster Evidenzstufe unmöglich oder unangemessen sind, bedürfen daher einer Sonderstellung und adaptierter Methoden im AMNOG-Verfahren.
Forschung heißt Wandel
Positionspapier
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Die Therapieansätze der letzten Jahre sind zunehmend zielgerichteter geworden für eng definierte, kleinere Gruppen von betroffenen Patient:innen. Der wissenschaftliche Fortschritt wird dadurch zu einer Herausforderung für die Arzneimittelzulassung, denn diese basiert in der Regel auf der Durchführung randomisierter kontrollierter Studien (RCT). Auch wenn RCT für den Regelfall als Goldstandard gelten, ist ihre Durchführung nicht in allen Situationen sinnvoll möglich oder ethisch vertretbar. Aus diesem Grund werden alternative Möglichkeiten für Studien entwickelt und angewandt – so z.B. einarmige Studien ohne Kontrollarm oder mit historischen Kontrollgruppen.
Die Zulassung stellt sich seit Jahren dieser Entwicklung. Ob RCT nötig und durchführbar sind oder ob alternative Studienansätze gewählt werden können, wird spezifisch für die jeweiligen Zulassungen bewertet. Im Fokus steht dabei eine einzelfallgerechte Abwägung zwischen einer zeitnahen Verfügbarkeit eines wirksamen und sicheren Arzneimittels und einer möglichst hohen Ergebnissicherheit. Diese Abwägung findet u.a. unter Berücksichtigung der Art, des Schweregrades und der Seltenheit der Erkrankung, des ungedeckten medizinischen Bedarfs und damit der ethischen Aspekte statt. Vor allem wenn es bei der Arzneimittelentwicklung früh Hinweise gibt, dass Patient:innen im besonderen Maße von der neuen Therapie profitieren, gibt es einen Bedarf an einem zeitnahen Therapiezugang basierend auf nicht-randomisierten Daten.
Webfehler im AMNOG-Verfahren
Beim AMNOG-Verfahren zeigen sich deutliche Diskrepanzen im Umgang mit nicht-randomisierten Daten. Der rechtliche Rahmen der AMNOG-Nutzenbewertung erkennt in der Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung (AM-NutzenV) an, dass es Therapiesituationen gibt, in denen es „unmöglich oder unangemessen ist, Studien höchster Evidenzstufe durchzuführen oder zu fordern“. In diesem Falle sind „Nachweise der best verfügbaren Evidenzstufe einzureichen“.
Diese Regelung läuft jedoch in der Bewertungspraxis ins Leere, da die Möglichkeit sowie Angemessenheit von klinischen Studien höchster Evidenzstufe (also RCT) nicht systematisch geprüft wird und die eingereichten Studien niedrigerer Stufen regelhaft (z.B. aufgrund eines einarmigen Studiendesigns) als nicht verwertbar eingestuft werden. Die Besonderheiten von Therapiesituationen werden also nicht adäquat berücksichtigt.
Dies ist ein Webfehler im AMNOG seit seinem Inkrafttreten im Jahr 2011, der zuletzt durch das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) sogar noch vergrößert wurde. Die Folgen werden zunehmend deutlich: Der therapeutische Zusatznutzen wird nicht entsprechend gewürdigt, so dass bei den betroffenen Therapien die Voraussetzungen für die Vereinbarung eines angemessenen Erstattungsbetrages fehlen. Dies kann sich negativ auf die Verfügbarkeit und den Einsatz neuer Therapien in der Versorgung von Patient:innen auswirken.
Anforderung der höchsten Evidenzstufe ist regelhaft zu prüfen
Im Rahmen der AMNOG-Nutzenbewertung muss regelhaft geprüft werden, ob es unmöglich oder unangemessen ist, Studien der generell höchsten Evidenzstufe durchzuführen oder zu fordern bzw. ob die höchstmögliche Evidenzstufe bereits vorliegt. Als Grundlage der möglichst frühzeitigen Prüfung unter Einbindung der Zulassungsbehörden sowie ggf. der Sachverständigen aus der Wissenschaft und Praxis sollen Erkenntnisse aus der Arzneimittelentwicklung und der wissenschaftlichen Beratung im Rahmen der Zulassung dienen. Die Prüfkriterien sollen die Besonderheiten der Therapiesituationen und Versorgung abbilden, so insbesondere den ungedeckten medizinischen Bedarf für Patient:innen, den Schweregrad der Erkrankung sowie die Größe der Zielpopulation.
Sonderstellung in der Bewertung
Wird im Rahmen der Prüfung festgestellt, dass es unmöglich oder unangemessen ist, Studien höchster Evidenzstufe durchzuführen oder zu fordern, so liegt hier eine besondere Therapiesituation vor. Für diese muss eine Sonderstellung in der Nutzenbewertung gelten. Dabei sind die Nachweise der bestverfügbaren Evidenzstufe bei der Bewertung heranzuziehen. Die Bewertung sollte dann unter Berücksichtigung der geringeren Ergebnissicherheit und unter Anwendung adaptierter Methoden zur Bewertung von Studien unterhalb der höchsten Evidenzstufe erfolgen.
Festlegung adaptierter Methoden
Für die Bewertung dieser besonderen Therapiesituationen sollte der G-BA unter Einbeziehung der relevanten Stakeholder adaptierte Methoden für die praktikable Bewertung von Studien unterhalb der höchsten Evidenzstufe festlegen. Hierzu gehören beispielsweise Kriterien für die Verwendung von externen Kontrollen und praktikable Methoden zur Identifizierung und Adjustierung von Confoundern (Störfaktoren) sowie die Akzeptanz von Surrogatendpunkten. Diese sollten eine Bewertung unter Berücksichtigung angepasster Anforderungen an die Ergebnissicherheit ermöglichen. Auch die Nutzung von Versorgungsdaten (sog. Real World Data) kann hier sinnvoll sein, um beispielsweise den natürlichen Krankheitsverlauf darzustellen oder den aktuellen Therapiestandard in der Versorgung für einen Vergleich heranzuziehen. Trotz zunehmend besserer Qualität von Registern werden diese Daten bisher nicht genutzt.
Fazit
Das AMNOG-Verfahren muss fit für den medizinischen Fortschritt gemacht werden. Für besondere Therapiesituationen, für die RCT unmöglich oder unangemessen sind, muss daher ein zukunftsfester Rahmen in der Nutzenbewertung geschaffen werden. Ansonsten droht eine weitere Abkopplung Deutschlands vom wissenschaftlichen Fortschritt und der dauerhafte Verlust der Vorreiterrolle in Europa bei der Versorgung von Patient:innen mit innovativen Arzneimitteln.