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Besondere Therapiesituationen brauchen besondere Bewertung

Neue Therapien werden zunehmend zielgerichteter, die Gruppe behandelbarer Patient:innen wird kleiner. Randomisierte kontrollierte Studien (RCT) sind hier aus praktischen und ethischen Gründen nicht immer durchführbar. Diese Dynamik muss auch bei der Bewertung des Zusatznutzens von Arzneimitteln (AMNOG) abbildbar sein, um die Abkopplung vom wissenschaftlichen Fortschritt in der Arzneimittelentwicklung zu vermeiden. Besondere Therapiesituationen, für die Studien höchster Evidenzstufe unmöglich oder unangemessen sind, bedürfen daher einer Sonderstellung und adaptierter Methoden im AMNOG-Verfahren.

Frau mit weiß-schwarz gestreifter Bluse unter einem weißen Kittel sitzt am Schreitisch und füllt ein Formular auf einem Klemmbrett konzentriert mit einem Kugelschreiber aus. Primäre Farbe des Fotos: weiß.

Forschung heißt Wandel

Webfehler im AMNOG-Verfahren

Beim AMNOG-Verfahren zeigen sich deutliche Diskrepanzen im Umgang mit nicht-randomisierten Daten. Der rechtliche Rahmen der AMNOG-Nutzenbewertung erkennt in der Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung (AM-NutzenV) an, dass es Therapiesituationen gibt, in denen es „unmöglich oder unangemessen ist, Studien höchster Evidenzstufe durchzuführen oder zu fordern“. In diesem Falle sind „Nachweise der best verfügbaren Evidenzstufe einzureichen“.

Diese Regelung läuft jedoch in der Bewertungspraxis ins Leere, da die Möglichkeit sowie Angemessenheit von klinischen Studien höchster Evidenzstufe (also RCT) nicht systematisch geprüft wird und die eingereichten Studien niedrigerer Stufen regelhaft (z.B. aufgrund eines einarmigen Studiendesigns) als nicht verwertbar eingestuft werden. Die Besonderheiten von Therapiesituationen werden also nicht adäquat berücksichtigt.

Dies ist ein Webfehler im AMNOG seit seinem Inkrafttreten im Jahr 2011, der zuletzt durch das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) sogar noch vergrößert wurde. Die Folgen werden zunehmend deutlich: Der therapeutische Zusatznutzen wird nicht entsprechend gewürdigt, so dass bei den betroffenen Therapien die Voraussetzungen für die Vereinbarung eines angemessenen Erstattungsbetrages fehlen. Dies kann sich negativ auf die Verfügbarkeit und den Einsatz neuer Therapien in der Versorgung von Patient:innen auswirken.

Anforderung der höchsten Evidenzstufe ist regelhaft zu prüfen

Im Rahmen der AMNOG-Nutzenbewertung muss regelhaft geprüft werden, ob es unmöglich oder unangemessen ist, Studien der generell höchsten Evidenzstufe durchzuführen oder zu fordern bzw. ob die höchstmögliche Evidenzstufe bereits vorliegt. Als Grundlage der möglichst frühzeitigen Prüfung unter Einbindung der Zulassungsbehörden sowie ggf. der Sachverständigen aus der Wissenschaft und Praxis sollen Erkenntnisse aus der Arzneimittelentwicklung und der wissenschaftlichen Beratung im Rahmen der Zulassung dienen. Die Prüfkriterien sollen die Besonderheiten der Therapiesituationen und Versorgung abbilden, so insbesondere den ungedeckten medizinischen Bedarf für Patient:innen, den Schweregrad der Erkrankung sowie die Größe der Zielpopulation.

Sonderstellung in der Bewertung

Wird im Rahmen der Prüfung festgestellt, dass es unmöglich oder unangemessen ist, Studien höchster Evidenzstufe durchzuführen oder zu fordern, so liegt hier eine besondere Therapiesituation vor. Für diese muss eine Sonderstellung in der Nutzenbewertung gelten. Dabei sind die Nachweise der bestverfügbaren Evidenzstufe bei der Bewertung heranzuziehen. Die Bewertung sollte dann unter Berücksichtigung der geringeren Ergebnissicherheit und unter Anwendung adaptierter Methoden zur Bewertung von Studien unterhalb der höchsten Evidenzstufe erfolgen.

Festlegung adaptierter Methoden

Für die Bewertung dieser besonderen Therapiesituationen sollte der G-BA unter Einbeziehung der relevanten Stakeholder adaptierte Methoden für die praktikable Bewertung von Studien unterhalb der höchsten Evidenzstufe festlegen. Hierzu gehören beispielsweise Kriterien für die Verwendung von externen Kontrollen und praktikable Methoden zur Identifizierung und Adjustierung von Confoundern (Störfaktoren) sowie die Akzeptanz von Surrogatendpunkten. Diese sollten eine Bewertung unter Berücksichtigung angepasster Anforderungen an die Ergebnissicherheit ermöglichen. Auch die Nutzung von Versorgungsdaten (sog. Real World Data) kann hier sinnvoll sein, um beispielsweise den natürlichen Krankheitsverlauf darzustellen oder den aktuellen Therapiestandard in der Versorgung für einen Vergleich heranzuziehen. Trotz zunehmend besserer Qualität von Registern werden diese Daten bisher nicht genutzt.

Fazit

Das AMNOG-Verfahren muss fit für den medizinischen Fortschritt gemacht werden. Für besondere Therapiesituationen, für die RCT unmöglich oder unangemessen sind, muss daher ein zukunftsfester Rahmen in der Nutzenbewertung geschaffen werden. Ansonsten droht eine weitere Abkopplung Deutschlands vom wissenschaftlichen Fortschritt und der dauerhafte Verlust der Vorreiterrolle in Europa bei der Versorgung von Patient:innen mit innovativen Arzneimitteln.