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Besondere Therapiesituationen: Webfehler im AMNOG beheben!

Neuartige Therapien, oft Gen- oder Zell-basiert, zeichnen sich dadurch aus, dass sie maßgeschneidert für sehr kleine Patientengruppen entwickelt werden. Das erschwert den Nutzennachweis durch sonst übliche kontrollierte klinische Studien (RCT). Während für die Zulassung adaptierte Methoden angewendet werden, klafft eine methodische Lücke bei der Nutzenbewertung des AMNOG, die zu füllen das Positionspapier AMNOG 2025 des Verbandes der forschenden Pharma-Unternehmen fordert.

DOT1L methyliert ein ubiquitiniertes Nukleosom mit der DNA-Methyltransferase I (mid) überträgt eine Methylgruppe von S-Adenosylmethionin (rot) meist auf Cytosinbasen der menschlichen DNA. Zwei Ubiquitinmoleküle (hellblau, rechts) binden an ein Nukleosom.

Neue Therapieansätze sind in den letzten Jahren zunehmend zielgerichteter für eng definierte kleine Patientengruppen geworden. Der Trend wird sich fortsetzen und beispielsweise durch die im April beginnende Umsetzung des Modellvorhaben genom.DE, das die Ganz-Genom-Analyse zur Leistung der GKV macht (Paragraf 64e SGB V). Für Patienten mit Seltenen Krankheiten oder genetisch verursachtem Krebs bedeutet dies Zugang zu erweiterter Diagnostik, in der Folge aber auch erhöhte Chancen auf neue personalisierte Therapieansätze. Dazu zählen insbesondere auch neuartige Gen- und Zelltherapien, die für Betroffene Aussicht auf verbesserte oder sogar erstmalige Therapiemöglichkeiten bedeuten können.

Problem: Kleine Patientengruppen

Diese Patientengruppen sind oftmals so klein, dass für sie ein Nutzennachweis aus praktischen und ethischen Gründen nicht mit Hilfe von RCT erbracht werden kann. Darauf ist bei der arzneimittelrechtlichen Zulassung reagiert worden: Sie berücksichtigt den Schweregrad und die Seltenheit einer Krankheit, den ungedeckten medizinischen Bedarf und frühe Hinweise darauf, dass Patienten von dieser Therapie in besonderem Maße profitieren. Unter diesen Bedingungen kann auf RCT verzichtet werden. Im Prinzip wird auch bei der Nutzenbewertung anerkannt, dass es Umstände geben kann, bei denen es „unmöglich oder unangemessen ist, Studien höchster Evidenz durchzuführen“. Dann sollen Nachweise der „bestverfügbaren Evidenzstufe“ vorgelegt werden. Das läuft jedoch in der Bewertungspraxis ins Leere, weil solche Umstände nicht systematisch geprüft werden. In der Folge werden dann eingereichte Studien – etwa einarmige Studien mit historischen Kontrollen – als nicht verwertbar eingestuft, so dass der Zusatznutzen als „nicht belegt“ gilt.

Der vfa sieht im AMNOG daher einen Webfehler, dessen Wirkung sich durch GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes auf die Erstattungsbeträge verschärft hat. Durch das Spargesetz wurden unter anderem

  • die Umsatzgrenze, ab der bei Orphan Drugs eine volle Nutzenbewertung durchgeführt werden muss, auf 30 Millionen Euro gesenkt und damit das Privileg, wonach der Zusatznutzen mit dem Orphan-Status als belegt gilt, eingeschränkt;
  • die zulässigen Jahrestherapiekosten begrenzt: Wird kein Zusatznutzen anerkannt, dürfen sie nicht über der der Vergleichstherapie liegen, wenn diese generisch ist; sie müssen um zehn Prozent geringer sein, wenn die Vergleichstherapie ein patentgeschütztes Medikament ist.

In der Folge bedeutet dies eine Verschlechterung der Erstattungsbedingungen insbesondere für stratifizierte und personalisierte Therapien für kleine und kleinste Patientenpopulationen. Das wiederum kann sich negativ auf die Verfügbarkeit und den Einsatz solcher Therapien auswirken und wäre überdies auch kontraproduktiv etwa zu den Zielsetzungen des vom Bundesgesundheitsministerium geförderten Modellprojekts genom.DE, das zur Zeit an den Start geht.

Welche Evidenz ist angemessen?

Aus diesem Grund fordert der vfa, dass bei der Nutzenbewertung regelhaft und frühzeitig geprüft werden muss, ob es unmöglich oder unangemessen ist, Studien der höchsten Evidenzstufe zu fordern. Bei dieser Prüfung sollen die Zulassungsbehörden und Sachverständige aus Wissenschaft und Praxis eingebunden werden. Dabei soll auch die wissenschaftliche Beratung im Rahmen der Zulassung berücksichtigt werden. Prüfkriterien sollen die Besonderheiten der Therapiesituationen abbilden, vor allem den ungedeckten medizinischen Bedarf – etwa das Fehlen einer Therapiealternative –, den Schweregrad der Erkrankung und die Größe der Zielpopulation sein.

Sind diese Kriterien erfüllt, dann sollten Nachweise der bestverfügbaren Evidenzstufe bei der Bewertung akzeptiert werden. Für die Bewertung solcher Therapiesituationen sollte der G-BA unter Einbeziehung der relevanten Stakeholder adaptierte Methoden für die praktikable Bewertung von Studien unterhalb der höchsten Evidenzstufe festlegen. Dazu sollten Kriterien für die Verwendung von externen Kontrollen und Methoden zur Identifikation von Störfaktoren sowie für Surrogatendpunkte entwickelt werden. Auch die Nutzung von Versorgungs- und zunehmend besseren Registerdaten wird als Option angesehen.

Interview mit Prof. Wörmann: „Ich sehe einen dritten Weg“

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Wir sollten gemeinsam diskutieren, ob und wie wir die Evidenzkriterien in randomisierten Studien mit kleinen Patientenpopulationen anpassen können.»

Bernhard Wörmann, medizinischer Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie

Herr Wörmann, ein Trend in der Onkologie läuft darauf hinaus, hochspezifische Therapien für sehr kleine Patientenpopulationen mit hohem medizinischen Bedarf zu entwickeln, sodass RCTs in bestimmten Fällen nicht oder in nicht angemessenen Rahmen durchgeführt werden können. Auf welche Evidenz für die Wirksamkeit solcher Therapien stützen sich Ärzte dann?

Die Entwicklung von Arzneimitteln für kleine Patientenpopulationen ist eine besondere Herausforderung. Wirksamkeit und Sicherheit neuer Arzneimittel kann in Phase I/II-Studien erfasst werden. Das reicht aber nicht. Die kritische Frage in der Versorgung ist, ob das neue Arzneimittel besser als der bisherige Therapiestandard ist. „Besser“ kann eine höhere Heilungsrate, eine längere krankheitsfreie oder progressionsfreie Überlebenszeit, Symptomlinderung, weniger Nebenwirkungen und/oder vor allem auch höhere Lebensqualität bedeuten. Ich sehe einen dritten Weg zwischen „RCT auf jeden Fall“ und „RCT nicht machbar“. Wir sollten gemeinsam diskutieren, ob und wie wir die Evidenzkriterien in randomisierten Studien mit kleinen Patientenpopulationen anpassen können. Konkret geht es um die Frage, ob wir bei seltenen Erkrankungen adaptive Studienkonzepte und eine etwas größere Unsicherheit mit Heraufsetzung der p-Werte akzeptieren. Dann könnten wir aussagekräftige, randomisierte Studien auch mit kleinen Patientenzahlen durchführen.

Erlaubt eine molekulargenetische Diagnostik und eine danach stratifizierte Therapie für solch kleine Patientengruppen eine befriedigende Prognose hinsichtlich der Wirksamkeit?

Die Antwort ist „jein“. Ja, weil die molekulargenetische Diagnostik bei vielen Indikationen eine präzise Therapiesteuerung ermöglicht. Nein, weil das nicht für alle molekulargenetischen Aberrationen zutrifft. Ein Beispiel: Bei Nachweis einer BRAF V600E-Mutation erzielen BRAF-Inhibitoren bei Patientinnen und Patienten (Pat.) mit einer Haarzell-Leukämie Remissionsraten von 90 Prozent, beim metastasierten Melanom von 50 Prozent und beim metastasierten Darmkrebs nur von 10 Prozent. Diese Erfahrungen sind einer der Gründe, warum sich die sogenannten tumoragnostischen, also indikationsübergreifenden Indikationen nicht breitflächig durchgesetzt haben. Die Präzisionsonkologie muss uns in den nächsten Jahren zusätzliche Informationen an die Hand geben, um solche Unterschiede besser zu verstehen und in Therapiestrategien umzusetzen.

Sehen Sie das Risiko, das der Gemeinsame Bundesausschuss bei solchen Konstellationen und nicht verfügbarer RCT künftig häufiger zu dem Ergebnis kommt: keine geeigneten Daten, keine Evidenz, kein Zusatznutzen?

Das Risiko sehe ich, und zwar sowohl beim Gemeinsamen Bundesausschuss als auch bei dem ab 2025 für die Krebsmedikamente gültigen Joint Clinical Assessment auf der EU Ebene. Trotzdem ist das Thema nicht neu: Ein pharmazeutischer Unternehmer sollte bei der Entwicklung eines neuen Arzneimittels nicht nur die Zulassung, sondern auch die Nutzenbewertung im Auge haben. Deshalb haben die frühen Beratungen eine so wichtige Rolle. Dieses Instrument der Joint Scientific Consultation auf der EU Ebene muss schleunigst konsentiert und eingerichtet werden.

Sollte deshalb der Expertise der Fachgesellschaften bei der Nutzenbewertung ein höheres Gewicht zugemessen werden?

In Deutschland wurden die Fachgesellschaften in den letzten 10 Jahren zunehmend in den Prozess der Nutzenbewertung integriert, sowohl in die frühe Beratung als auch in die Kommentierung der Dossiers. Trotzdem gibt es immer wieder schmerzhafte und folgenreiche Informationslücken. Sinnvoll ist ein Sitz für die Fachgesellschaften im G-BA, ähnlich wie er für Patienten eingerichtet wurde.

Dieses Interview entstand in Kooperation mit der ÄrzteZeitung.