Orphan Drugs schnell erklärt
Was sind Orphan Drugs?
Forschende Pharma- und Biotech-Unternehmen bieten nicht nur Arzneimittel gegen häufige Erkrankungen an, sondern auch gegen seltene. Wenn ihnen die EMA zudem (zumindest für einen Teil der Patient:innen) eine Überlegenheit gegenüber anderen Therapien attestiert, nennt man sie Orphan Drugs.
Woher kommt der Begriff?
Orphan Drugs sind Medikamente gegen Orphan Diseases („Waisenkrankheiten“), wie seltene Erkrankungen auf Englisch auch genannt werden. Die gibt es in allen Gebieten der Medizin, z.B. unter den Stoffwechsel-, Krebs- und Autoimmunkrankheiten. Sie verlaufen meist chronisch und können zu Invalidität oder gar Tod führen.
Wie selten ist selten?
Als selten gilt in der EU eine Krankheit, wenn höchstens eine Person von 2.000 EU-Bürger:innen darunter leidet. Zum Vergleich: Rund 170 von 2.000 EU-Bürger:innen leiden an Diabetes Typ 2. Heute sind weltweit rund 8.000 seltene Krankheiten bekannt.
Was ist an Orphan Drugs besonders?
Weil es jeweils nur wenige betroffene Patient:innen gibt, sind die Absatz- und damit oft auch Umsatzmöglichkeiten für ein entsprechendes Medikament eng begrenzt; oftmals ist auch die Krankheit erst wenig erforscht. Daher gibt es spezielle Anreize, damit Pharma-Unternehmen trotzdem verstärkt in die Erforschung und Entwicklung solcher Medikamente investieren können. So können z. B. Gebühren für die Zulassung entfallen. Zugelassene Medikamente mit Orphan Drug-Status erhalten zudem parallel zum Patentschutz (soweit der noch besteht) eine Marktexklusivität, die sie zehn Jahre lang vor Konkurrenz durch gleichartige Wettbewerbsprodukte schützt; es sei denn, diese erweisen sich als besser wirksam oder besser verträglich.
Was tut die Politik?
Die Entwicklung von Orphan Drugs wurde als gemeinsame Verantwortung von der EU erkannt – mit einer Verordnung aus dem Jahr 2000 (Nr. 141/2000) fördert sie die Erforschung, Entwicklung und Zulassung dieser Medikamente. Die EU-Mitgliedsstaaten wurden außerdem aufgefordert, nationale Pläne für Patienten mit seltenen Erkrankungen aufzusetzen. In Deutschland hat das Bundesministerium für Gesundheit gemeinsam mit dem Bundesforschungsministerium und der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit seltenen Erkrankungen (NAMSE) ins Leben gerufen. Es hat gemeinsam mit anderen Partnern 2013 einen Aktionsplan erarbeitet und sorgt seither für dessen Umsetzung.
Was tut die Pharmaindustrie?
Seit die EU-Verordnung gilt, bringen forschende Pharma- und Biotech-Unternehmen verstärkt mehr Medikamente für Patient:innen mit seltenen Krankheiten auf den Markt. In den letzten Jahren waren rund ein Drittel aller neuen Medikamente Orphan Drugs. Aktuell sind in der EU 150 Orphan Drugs zugelassen (Stand: Januar 2024). Hinzu kommen 95 weitere Arzneimittel, deren früherer Orphan Drug-Status zurückgegeben wurde oder nach 10 Jahren abgelaufen ist. Fast alle von ihnen sind noch im Markt. Hersteller erproben zudem derzeit weitere Orphan Drugs in klinischen Studien.
Wer entscheidet, welches Medikament den Orphan Drug-Status erhält?
Die EU-Kommission vergibt den Status, nachdem die europäische Arzneimittelbehörde EMA geklärt hat, dass das Medikament die Orphan Drug-Kriterien erfüllt. Die EMA prüft dabei auch, ob die betreffende Krankheit wirklich selten ist. Für die Behandlung einer seltenen Unterform einer häufigen Krankheit gibt es den Status nicht.
Wie werden Orphan Drugs zugelassen?
Orphan Drugs bekommen ihre Zulassung von der EU-Kommission, wenn die Arzneimittelbehörde EMA das empfiehlt. Davor prüft sie diese Medikamente nach den gleichen strengen Bestimmungen, die auch für andere Medikamente gelten. Zusätzlich prüft sie, ob die Krankheit weiterhin weniger als 5 von 10.000 Personen in der EU betrifft und ob ein „Significant Benefit“ gegenüber den bisherigen Behandlungsmöglichkeiten vorliegt.
Ein Drittel der Orphan Drugs seit 2010 stellten zum Zeitpunkt ihrer Zulassung die erste gezielte Behandlungsmöglichkeit für die betreffende Krankheit überhaupt dar. In den übrigen Fällen bestätigte die EMA den Medikamenten, dass sie mindestens für einen Teil der Patienten einen wesentlichen Fortschritt darstellen.
Gelten bei der Vermarktung von Orphan Drugs andere Regeln?
Orphan Drugs durchlaufen, genau wie alle anderen innovativen Wirkstoffe, das AMNOG-Verfahren. Sie müssen bereits im Rahmen der Zulassung einen signifikanten klinisch relevanten Zusatznutzen zeigen. Dieser gilt daher im AMNOG folgerichtig mit der Zulassung als belegt und der G-BA beschließt über das Ausmaß des Zusatznutzens. Auf dieser Grundlage finden dann, wie bei allen anderen Medikamenten, die Erstattungsbetragsverhandlungen statt, die zu deutlichen Rabatten führen können.
Diese AMNOG-Regelung gilt, bis ein Orphan Drug innerhalb von zwölf Monaten einen Bruttoumsatz von 30 Millionen Euro erzielt. Sobald es diese Schwelle überschreitet, wird es rechtlich und methodisch wie alle anderen Arzneimittel behandelt: Es stellt sich einer dann vollumfänglichen Nutzenbewertung mit erneuter Erstattungsbetragsverhandlung.
Was sind aktuelle Herausforderungen?
Die forschenden Pharma- und Biotech-Unternehmen machen sich im nationalen Aktionsbündnis für Menschen mit seltenen Erkrankungen (NAMSE) für Verbesserungen für die Betroffenen stark. Dazu gehören auch bessere Diagnose- und Behandlungsangebote. Dafür ist eine Politik aus einem Guss erforderlich, die Forschungs-, Gesundheits- und Wirtschaftspolitik zusammenbringt. Der Gesetzgeber hat unlängst die Bestimmungen für Orphan Drugs in Deutschland verschärft. Es ist jedoch wichtig, dass die Anstrengungen auf europäischer Ebene nicht durch nationale Maßnahmen konterkariert werden.