Klinische Studien in Indien, Ägypten, Russland und anderen Schwellenländern
Ehe neue Medikamente zugelassen werden, müssen sie mit zahlreichen Patienten erprobt werden. Dabei wird untersucht, ob sie – im Vergleich zu einem schon zugelassenen Medikament oder einer anderen Behandlung – wirksam sind und keine problematischen Nebenwirkungen hervorrufen. Die Erprobung neuer Medikamente findet international statt. Die Pharma-Unternehmen arbeiten bei diesen Studien mit Kliniken oder Arztpraxen zusammen – schließlich dürfen Patienten nur von Ärzten medizinischer Einrichtungen behandelt werden.
Die Ärzte dieser Einrichtungen fragen in Betracht kommende Patienten, ob sie ihm Rahmen einer Studie behandelt werden wollen. Bevor ein Patient sich für eine Teilnahme entscheidet, müssen die Ärzte ihn über die im Rahmen der Studie geplante Behandlung wie auch die Behandlung außerhalb der Studie aufklären. Entscheidet sich ein Patient zur Teilnahme, wird diese Einwilligung in einem sogenannten „informed consent“-Dokument festgehalten. Patienten können aber jederzeit ohne Angabe von Gründen die Teilnahme auch wieder beenden (Mehr dazu hier: Patienten in klinischen Studien).
Initiiert werden können Studien von Unternehmen oder forschenden Ärzten an Unikliniken und anderen akademischen Einrichtungen. Mit der Organisation und Durchführung einer Studie können sie spezialisierte Dienstleister (sogenannten CROs – für Contract Research Organisation) beauftragen. Die Studie bleibt dann aber weiter in der Verantwortung des Studieninitiators (dem Studiensponsor), der auch in den Eintragungen in Studienregistern nachzulesen ist.
Fast jede Studie findet in mehreren medizinischen Einrichtungen zugleich statt; und meist liegen diese Einrichtungen in mehreren Ländern. Multinationale Studien sind also die Regel, und 15 bis 30 beteiligte Länder nicht ungewöhnlich. Was industrie-initiierte Studien betrifft, sind besonders häufig medizinische Einrichtungen aus den USA und Deutschland beteiligt (in den USA jährlich an rund 2.400 neuen industrie-finanzierten Studien, in Deutschland um die 600). Kliniken in europäischen Nachbarländern und Kanada sind ebenfalls häufig beteiligt; dazu kommen weitere Länder in mehreren Kontinenten; denn viele Länder muss man einbeziehen,
- um in realistischen Zeiträumen genügend teilnahmewillige Patienten mit der jeweiligen Krankheit zu finden;
- um der Anforderung der Zulassungsbehörden zu genügen, dass in den Studien eine Varianz der Ethnien und Lebensgewohnheiten berücksichtigt ist;
- um behördlichen Anforderungen einzelner Staaten zu entsprechen, nach denen die nationale Zulassung eines Medikaments nur möglich ist, wenn dessen Erprobung unter Einbeziehung von Studienzentren des eigenen Landes erfolgt. Deutschland sieht so etwas nicht vor, wohl aber Russland und Indien.
Die meisten Industrie-initiierten Studien, an denen Kliniken in Schwellenländern beteiligt sind, finden zugleich auch Kliniken in Industrieländern statt. Studien wurden also nicht in Schwellenländer verlagert, sondern es wurden und werden nur mehr Schwellenländer einbezogen als vor zehn oder fünfzehn Jahren.
Abbildung oben: Beteiligung von Ländern an Medikamentenstudien von Pharma-Unternehmen. Die Zahl gibt für jedes Jahr an, an wie vielen neuen Studien medizinische Einrichtungen des genannten Landes mitgewirkt haben. Ein Studie, an der Kliniken mehrerer Länder beteiligt sind, wird für jedes dieser Länder mitgezählt (die Summe aller landesbezogenen Angaben ist also weit größer als die Zahl von Studien, die weltweit überhaupt stattgefunden haben). Nicht mitgezählt sind hier Bioäquivalenz-Studien, wie sie für Generika benötigt werden. Quelle: Studienregister www.clinicaltrials.gov
Indien, China und Russland gehören zwar zu den größten bzw. bevölkerungsreichsten Ländern der Erde, sind aber weiterhin keine bedeutenden Standorte für klinische Studien: 2016 waren indische Kliniken nur an 39 Industrie-finanzierten Studien beteiligt, die im gleichen Jahr begonnen wurden; chinesische an 290 Studien und russische an 243. Zudem sind die Beteiligungszahlen in Indien in den letzten Jahren stetig gesunken. Zum Vergleich: Kliniken aus Polen, das nur einen Bruchteil der Einwohnerzahl der genannten großen Länder aufweist, waren 2016 an 292 Industrie-Studien beteiligt.
Auch andere Schwellenländer beteiligen sich in vergleichweise geringem Maße an Studien. Ägypten, das etwas so viele Einwohner wie Deutschland hat, war nur an 13 Industrie-finanzierten Studien beteiligt, die 2016 begonnen wurden. Brasilien beteiligte sich 2016 an 112, Südafrika an 81 klinischen Studien.
Nur einheitliche Durchführung macht Studien für Firmen verwertbar
Klinische Studien sind die Voraussetzung dafür, dass Behörden über die Zulassung eines Medikaments (oder die Erweiterung seines Anwendungsgebietes) entscheiden. Sie sind aber auch sehr teuer (kosten zwei bis dreistellige Millionen-Beträge). Firmen haben daher ein hohes Interesse, dass jede Studie so durchgeführt wird, dass sie aussagefähige Daten ergibt und von Zulassungsbehörden nicht zurückgewiesen wird. Beide Anforderungen lassen sich nur erfüllen, wenn die Patienten in allen beteiligten Einrichtungen gemäß internationaler Standards behandelt werden. Zu diesen gehört zwingend der informed consent – also die dokumentierte Einwilligung in die Teilnahme nach umfassender Aufklärung über die Studie und mögliche Alternativen. Es ist erforderlich, dass die Patienten in allen beteiligten medizinischen Einrichtungen gleich behandelt werden. Andernfalls sind die Daten nicht verwertbar und werden von den Zulassungsbehörden nicht anerkannt.
Diese Dinge sind ohnehin durch Bestimmungen (wie denen der Good Clinical Practice der International Conference on Harmonisation, ICH-GCP) geregelt. Einige Firmen haben sie zudem noch einmal ausdrücklich für sich als Policy für internationale Studien formuliert.
Leider gibt es an Studien beteiligte Einrichtungen und Dienstleister, die Standards nicht einhalten, auch wenn Behörden und Firmen dem durch Auswahlprozeduren vor den Studien und durch Kontrollen während der Studien entgegenwirken. Solche schwarzen Schafe sind aber kein Phänomen, das es nur in Schwellenländern gibt.
Motivationen für die Studienteilnahme
Die Gründe für eine Studienteilnahme in Deutschland sind auch gute Gründe für eine Teilnahme in Indien oder einem anderen Schwellenland: Zu diesen zählt, dass Studienteilnehmer meist gründlicher untersucht und engmaschiger betreut werden können als bei Routinebehandlungen. Zu diesen zählt auch die Chance, vielleicht eine neue Behandlung zu erhalten, die besser hilft.
Für medizinische Einrichtungen in Schwellenländern gibt es ebenfalls gute Gründe zur Mitwirkung an Studien. Denn auch in diesen Ländern gibt es durchaus zahlreiche Kliniken und Arztpraxen auf dem Stand von Industrienationen. Sie können und wollen sich auf dem neuesten Stand halten und an der Fortentwicklung der Medizin mitwirken.
So wird ein Medikament erfunden und erprobt
1. Fokus Krankheit
Am Anfang steht die Entscheidung, für eine bisher nicht ausreichend behandelbare Erkrankung ein Forschungs- und Entwicklungsprogramm aufzulegen.
2. Targetsuche
Es wird ein Angriffspunkt (Target) im Krankheitsgeschehen ermittelt, d. h. ein Molekül in den Körperzellen oder im Blut, an dem ein Arzneimittel ansetzen und so den Krankheitsverlauf günstig beeinflussen kann.
3. Suche nach Ausgangssubstanzen
Es werden Anhaltspunkte dafür gesucht, wie ein Wirkstoff aussehen könnte. Eine Möglichkeit: Screening. Hierbei werden bis zu 2 Millionen Substanzen mit den Targetmolekülen zusammengebracht. Diejenigen Substanzen, die auf das Target zumindest eine schwache Wirkung zeigen, werden Hits genannt und genauer untersucht.
4. Durch chemische Optimierung und Tests zum Wirkstoffkandidaten
Die Optimierung verläuft in mehreren Runden. Zunächst wird anhand der Hitsubstanzen erschlossen, welche strukturellen Merkmale für einen Wirkstoff erforderlich sind. Moleküle mit solchen Merkmalen werden von Chemikern synthetisiert und für Tests zur Verfügung gestellt. Zu den Testkriterien zählen u.a. Bindung an das Target, Löslichkeit, die Verteilung und der Abbau im Organismus.
In späteren Runden werden Abwandlungen der Moleküle hergestellt, wobei Strukturuntersuchungen und Computersimulationen bei der Wahl aussichtsreicher Molekülveränderungen helfen. Anhand der Testergebnisse wird entschieden, ob weitere chemische Abwandlungen nötig sind oder ob die erarbeitete Substanz als Wirkstoff taugen könnte.
5. Untersuchung der Wirkungen und der Verträglichkeit
Ist eine aussichtsreiche Substanz synthetisiert worden, muss diese auf Wirksamkeit und Unbedenklichkeit hinsichtlich Giftigkeit und anderer möglicher Schadwirkungen getestet werden. Dazu sind neben Zellkulturen auch Tiere erforderlich. Substanzen, die sich bewähren, kommen als Wirkstoffkandidat in Betracht.
6. Studien mit wenigen Gesunden: Phase I
Nun kann die Substanz beim Menschen erprobt werden. Dazu wird bei gesunden Freiwilligen geprüft, wie sich geringe Mengen des Wirkstoffkandidaten im Körper verhalten und ab welcher Konzentration sie beginnen, Nebenwirkungen zu verursachen.
7. Entwicklung der Darreichungsform
Für den Wirkstoff wird eine Darreichungsform entwickelt, z. B. eine Tablette, Kapsel, Salbe, Injektionslösung oder -emulsion, ein Zäpfchen, ein inhalierbares Aerosol oder ein Wirkstoffpflaster.
8. Studien mit wenigen Kranken: Phase II
Erstmals setzen Ärzte ein Medikament mit dem Wirkstoffkandidaten bei Patienten ein. Typischerweise 100 bis 500 Patienten, die freiwillig teilnehmen, erhalten dazu entweder das neue Medikament oder eine Vergleichsbehandlung. Die Ärzte untersuchen Wirksamkeit, Verträglichkeit und Dosierung.
9. Studien mit vielen Kranken: Phase III
Ärzte in Kliniken vieler Länder erproben das Arzneimittel mit mehreren tausend Patienten, die freiwillig teilnehmen. Diese erhalten wieder entweder das neue Medikament oder eine Vergleichsbehandlung. Untersucht werden Wirksamkeit, Verträglichkeit und mögliche Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten.
10. Begutachtung durch Zulassungsstellen
Experten der Zulassungsbehörden vieler Staaten prüfen die eingereichten Unterlagen zu allen Entwicklungsschritten, zur Herstellung des Arzneimittels und zu den vorgesehenen Qualitätskontrollen. Sind Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und Qualität des Medikaments erwiesen, erteilen sie die Zulassung.
11. Anwendung, Beobachtung, Weiterentwicklung
Ist das Medikament zugelassen, kann es verordnet werden. Ärzte, Hersteller und Behörden achten auf mögliche selten auftretende Nebenwirkungen. Die Gebrauchsinformation wird laufend aktualisiert. Falls das Medikament bei weiteren Erkrankungen in Betracht kommt, werden dazu neue klinische Studien begonnen.
Wer erhält Geld für die Mitwirkung an Studien?
Für eine medizinische Einrichtung bedeutet die Durchführung von Studien einen erheblichen Zusatzaufwand neben der üblichen Krankenversorgung. Dieser muss vom Auftraggeber der Studie, also meist den forschenden Pharma-Unternehmen, bezahlt werden – in jedem Land.
Während Gesunde, die im Rahmen der sogenannten Phase I der Medikamenten-Erprobung die neuen Präparate testen, honoriert werden müssen, erhalten Patienten in den nachfolgenden Studienphasen normalerweise kein Geld für ihre Teilnahme. Es gibt höchstens eine Aufwandsentschädigung, falls ihnen durch die Teilnahme zusätzlicher Aufwand im Vergleich zu einer normalen Behandlung entsteht, z. B. durch den Besuch von Nachbeobachtungs-Untersuchungen.
Können Analphabeten an Studien teilnehmen?
Analphabetismus ist beispielsweise iin Indien verbreiteter als in Industrieländern, aber auch hierzulande kommt er vor. In den Bestimmungen zur Good Clinical Practice ist festgehalten, dass in solchen Fällen eine Aufklärung über die Studie vor der Entscheidung – unter Einhaltung bestimmter Modalitäten – auch durch mündliche Erläuterungen durchgeführt werden kann. Der informed consent kann demnach auch unter Verwendung unabhängiger Zeugen dokumentiert werden. Eine solche Regelung findet sich auch in § 40 Abs. 1 des deutschen Arzneimittelgesetzes.
Wie wird die Einhaltung von Standards in medizinischen Einrichtungen kontrolliert?
Die internationalen Regelungen zur Studiendurchführung müssen eingehalten werden; sie stehen unter anderem in den Dokumenten zur Good Clinical Practice der International Conference on Harmonisation, ICH-GCP. Dies geschieht so:
Bevor eine medizinische Einrichtung in eine Studie einbezogen wird, findet ein sogenanntes „Feasibility Assessment“ durch einen Auditor im Auftrag der Firma statt, die die Studie durchführen möchte. Dabei wird vor Ort überprüft, ob die Klinik/Praxis überhaupt für die Studie geeignet ist: ob die potenziellen Studien-Ärzte die nötigen Eignungen und Qualifikationen haben, ob man dort die medizinischen und ethischen Standards einhalten kann und ob man dort die richtige technische und personelle Ausstattung hat. Sieht der Auditor Defizite, wird die Klinik/Praxis so lange nicht einbezogen, bis diese Defizite überwunden sind.
Während der Studie erfolgt ein konstantes Monitoring der beteiligten Einrichtungen durch Mitarbeiter oder Beauftragte der Firma, die die Studie initiiert hat. Sie kontrollieren z. B., ob von allen Patienten dokumentierte Einwilligungserklärungen vorliegen, ob wirklich so behandelt wird wie für die Studie vorgesehen. Werden dabei Probleme in einer Einrichtung aufgedeckt, wird diese entweder von der weiteren Durchführung ausgeschlossen (bei schweren Defiziten oder aufgedecktem Betrug) oder “on hold“ gesetzt, bis die Mängel behoben sind. In einem solchen Fall werden keinerlei Patientendaten der fraglichen Einrichtung für die Studie verwendet.
Alle Aspekte des „Feasibility Assessment“ und des Monitorings werden dokumentiert.
Neben dieser Kontrolle durch die Studieninitiatoren selbst gibt es auch Kontrollen durch Mitarbeiter von Zulassungsbehörden aus der ganzen Welt, etwa den USA, der EU oder Japan. Sie dürfen sich vor Ort ebenfalls von der Einhaltung ethischer und medizinischer Standards überzeugen.
Für alle EU-Zulassungen muss der Antragsteller schriftlich bestätigen, dass die ethischen Standards bei Studien in Drittländern den in der EU geltenden gleichwertig sind (§ 22 Abs. 2 Nr. 4 des deutschen Arzneimittelgesetzes). Sollte sich im Rahmen der Inspektion herausstellen, dass eine medizinische Einrichtung nicht adäquat gearbeitet hat und/oder der Initiator der Studie seiner Überwachungspflicht nicht ausreichend nachgekommen ist, dann werden entweder die Daten aus einzelnen Einrichtungen oder die ganze Studie für unverwertbar erklärt - und der Studieninitiator muss sie noch einmal wiederholen, was natürlich mit hohen Kosten verbunden ist. Andernfalls bekommt er die Zulassung für das Medikament nicht.
Todesfälle bei klinischen Studien
Es kommt vor, dass Patienten sterben, die in der Vergangenheit an Studien teilnehmen oder teilgenommen haben. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass sie durch die Studienteilnahme gestorben sind. Meist stellt sich heraus, dass der Patient verstorben ist, weil auch die Studienbehandlung es nicht verhindern konnte, dass er seiner Erkrankung erlag. Oder es hatte eine ganz andere Ursache, unabhängig von medizinischen Umständen.
Es ist richtig und wichtig, alle negativen Ereignisse bei Studienteilnehmern zu erfassen und zu analysieren. Aber erst ein Vergleich der Sterbefälle zwischen der Patientengruppe, die mit dem neuen Medikament behandelt wurde, und der Gruppe, die herkömmlich behandelt wurde, lässt – (nach Prüfung der einzelnen Todesursachen) Schlüsse zu, ob das Studien-Medikament etwas mit den Todesfällen zu tun hat oder nicht.