Klinische Studien in der DDR: Standards wie im Westen oder sogar höher
Vieles, was in der DDR geschah, wurde in den Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung kritisch aufgearbeitet; und viel Unrecht wurde aufgedeckt. Bei der medizinhistorischen Analyse des dortigen Studienwesens zeigte sich allerdings, dass die ethischen und medizinischen Standards bei klinischen Studien nicht hinter denen westlicher Länder zurückstanden. In West und Ost galt beispielsweise gleichermaßen: Patienten müssen vor einer Studienteilnahme umfassend informiert worden sein und können erst nach ihrer ausdrücklichen Zustimmung teilnehmen.
Solche Anforderungen galten für Studien, die von DDR-Stellen initiiert wurden, ebenso wie für Studien, die von westlichen Pharma-Firmen in Auftrag gegeben wurden. Letzteres kam häufig vor: Vor allem in den 1970er- und 1980er-Jahren haben westliche Pharma-Unternehmen mehrere Hundert klinische Studien in Zusammenarbeit mit DDR-Krankenhäusern durchgeführt. Attraktiv war das für westliche Unternehmen vor allem aus einem Grund: Wegen des zentralistischen Systems war es möglich, über wenige Ansprechpartner vergleichsweise schnell die Mitwirkung vieler Kliniken zu organisieren. Dadurch konnten neue Medikamente bei gleich hohen Sicherheitsstandards schneller erprobt und zur Zulassung gebracht werden. Aus Sicht der DDR waren diese Kooperationen attraktiv, weil sie Devisen einbrachten. Als sogenannte immaterielle Exporte haben DDR-Kliniken beispielsweise auch Patienten aus dem Westen behandelt oder Fachkräfte weitergebildet.
Medizinhistorische Untersuchung
Vor rund sieben Jahren wurden in Magazinartikeln und Fernsehbeiträgen Vorwürfe erhoben, die in DDR-Kliniken durchgeführten Studien hätten geltende Standards missachtet. So sollen Patienten an Studien beteiligt worden sein, ohne dass sie darüber in Kenntnis gesetzt worden wären. Auch sollen riskante Studien durchgeführt worden sein, die die beteiligten Patienten gesundheitlich geschädigt hätten.
2016 haben die Medizinhistoriker der Charité ihre Ergebnisse in dem Buch „V. Hess, L. Hottenrott, P. Steinkamp: Testen im Osten – DDR-Arzneimittelstudien im Auftrag westlicher Pharmafirmen“ veröffentlicht und in einer Pressekonferenz sowie einer Abschlussveranstaltung vorgestellt.
Dies wurde zum Anlass für mehrere medizinhistorische Untersuchungen. Die umfassendste wurde von Professor Volker Hess (Charité Berlin) und MitarbeiterInnen von 2013 bis 2016 durchgeführt. Dafür sichteten die Forscher Unterlagen von Kliniken, Unternehmen sowie der Staatssicherheit und führten Interviews mit Zeitzeugen. Unter anderem erhielt das Team Zugang zu allen Unterlagen aus den Archiven von Pharma-Unternehmen, um die es bat.
Wichtige Ergebnisse: Im untersuchten Material lassen sich rund 900 klinische Studien aus dem Zeitraum von 1961 bis 1990 identifzieren, die in der DDR im Auftrag westlicher Firmen durchgeführt wurden. Dabei kam die DDR- Arzneimittelgesetzgebung zur Anwendung, die in punkto Studien- und Patientensicherheit der westdeutschen zeitweilig sogar voraus war. Die Unterlagen belegen, dass diese Standards in den Studien auch angewendet wurden. So sind bei keiner Studie Hinweise auf systematische Verstöße gegen das Prinzip der Einwilligung der Teilnehmenden nach Aufklärung zu finden. Viele der Studien waren Teil multinational angelegter Arzneimittelprüfungen und mussten daher ohnehin in jedem Land auf gleiche Weise durchgeführt werden.
Auch an den Studienkonzepten – etwa, was als Vergleichsmedikation zum zu testenden neuen Medikament dienen sollte – hatten die Historiker fast nichts zu beanstanden. Nur bei einigen wenigen Studien stellten sie die Frage, ob hier auf dem Stand der damaligen Medizin nicht ein anderer Studienaufbau machbar gewesen wäre.
Was diese historische Forschungsarbeit nicht ausschließen kann: Dass es in Einzelfällen zu Verstößen gekommen ist, dass etwa Ärzte eine Einwilligung nach Aufklärung gefälscht haben. In keinem Fall war das aber vom Auftraggeber oder den DDR-Stellen für die Studienkoordination so geplant.
Standards für Studien werden ständig weiterentwickelt
Die international gültigen Regeln für klinische Studien wurden seit den 1970er-Jahren immer weiter verschärft. So reichte es in den 1980er-Jahren beispielsweise noch aus, wenn die Zustimmung der Patientin bzw. des Patienten zu einer Studienteilnahme mündlich geschah und nur vom Arzt in den Unterlagen vermerkt wurde. Heute muss, wer teilnehmen will, selbst mit eigener Unterschrift zustimmen.
Wichtige Standards für die Studienplanung und -durchführung
- Sicherheit der Teilnehmer: Vor der Zulassung werden neue Medikamente – nachdem sie über mehrere Jahre auf Aspekte wie Sicherheit und Wirksamkeit im Labor geprüft wurden – zunächst mit gesunden Probanden getestet. Dabei geht es um Fragen der Verträglichkeit und etwaiger Nebenwirkungen. Anschließend folgen Studien mit Patienten, um Wirksamkeit und geeignete Dosierung zu eruieren. Treten problematische Nebenwirkungen auf, wird die Teilnahme des Patienten oder sogar die gesamte Studie sofort beendet.
- Genehmigung durch Behörden und Ethik-Kommission: Bevor eine klinische Studie durchgeführt wird, muss das Pharma-Unternehmen gegenüber den zuständigen Behörden und den für die vorgesehenen medizinischen Einrichtungen zuständigen Ethikkommissionen detailliert aufzeigen, was es plant, wer mitwirken soll und wie der Schutz der Patienten gewährleistet wird. Nur wenn alle zustimmen, kann die Studie starten.
- Informed consent als Grundprinzip: Teilnehmer einer klinischen Studie müssen vorab ausführlich über die Studie informiert werden. Sie müssen der Teilnahme ausdrücklich zustimmen („consent“). Auch kann ein Patient seine Teilnahme jederzeit ohne Angabe von Gründen beenden.
- Entblinden: Wenn es medizinisch geboten ist, kann für einen Teilnehmer jederzeit aufgedeckt („entblindet“) werden, ob er im Rahmen der Studie das neue Medikament oder aber das (gleich aussehende) Vergleichsmedikament erhalten hat.