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Lieferengpässe bei Arzneimitteln: Ursachen, Folgen und Lösungen

Lieferengpässe bei Arzneimitteln sind eine Herausforderung für das Gesundheitssystem. Die Ursachen für Versorgungsprobleme sind vielfältig und betreffen Patient:innen in unterschiedlichen Bereichen.

Apotheker, der fragend vor einer ausgezogenen Schublade des Generalalphabetes in der Apotheke steht. In der rechten Hand hält er ein Tablet.

Die wichtigsten Fragen und Antworten

Lieferengpässe bei Arzneimitteln begleiten das deutsche Gesundheitssystem spätestens seit der Corona-Pandemie zuverlässig. Ein Brustkrebsmedikament, Fiebersäfte für Kinder, diverse Impfstoffe und Antibiotika, die Liste ist stets dynamisch. Wie schwerwiegend sich derartige Engpässe äußern, hängt vom betroffenen Arzneimittel, der Verfügbarkeit von wirkstoffgleichen oder therapeutischen Alternativen und der Schwere der behandelten Erkrankung ab.

Auf den Internetseiten des Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) und auch der europäischen Arzneimittelagentur (EMA) werden die laufenden oder angekündigte Lieferengpässe von Arzneimitteln tagesaktuell publiziert. Von besonderer Bedeutung sind zurzeit die Versorgungsmängel für sterile Kochsalzlösung und für Kinderantibiotika, wobei letztere in deutlich größerem Umfang zur Verfügung stehen als in den vergangenen Wintern. Ein weiterer Lieferengpass betrifft atomoxetinhaltige Arzneimittel zur Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), der durch einen Qualitätsmangel hervorgerufen wurde. Der vom Qualitätsmangel betroffene Hersteller stellt atomoxetinhaltige Arzneimittel für verschiedene Zulassungsinhaber zur Verfügung, die in ihrer Gesamtheit rund 80 Prozent des Marktvolumens für Arzneimittel mit diesem Wirkstoff in Deutschland ausmachen.

Für die meisten der Arzneimittel, für die zurzeit ein Engpass gemeldet ist, bestehen alternative Behandlungsmöglichkeiten. Häufig bedeutet der Lieferengpass für Patient:innen keinerlei Auswirkungen, da sie den gleichen Wirkstoff in der gleichen Dosierung erhalten, lediglich der Hersteller des Arzneimittels ist ein anderer. Dies ist meist der Fall, wenn es sich um generische Wirkstoffe handelt, die von einer Großzahl an Marktteilnehmern hergestellt und vertrieben werden. Eine Einschränkung in der Behandlung tritt in diesen Fällen selten auf.

Schwerwiegender sind Engpässe, bei denen nur einzelne Hersteller den Markt bedienen, so dass bei einem Lieferengpass ein großer Marktanteil betroffen ist. In diesen Fällen, wie aktuell beim Lieferengpass von atomoxetinhaltigen Arzneimitteln, stehen keine oder zu wenige Hersteller zur Verfügung, die den ausgefallenen Marktanteil adäquat auffangen können; die Versorgung mit Mitteln mit dem entsprechenden Wirkstoff ist dann nicht gedeckt. Der Lieferengpass bei Atomoxetin hat allerdings keine schwerwiegenden Auswirkungen auf die Versorgung, da lediglich vier Prozent der ADHS-Patient:innen in Deutschland mit Atomoxetin behandelt werden. Da weitere Wirkstoffe für dieses Anwendungsgebiet zur Verfügung stehen, kann die Versorgung durch die Umstellung auf Medikamente mit anderen Wirkstoffen über die gesamte Zeit des Engpasses aufrechterhalten werden. In den beiden oben genannten Fällen wird von Lieferengpässen gesprochen.

Abfüllanlage für kleine Glasflaschen in einer pharmazeutischen FabrikIn vergangenen Jahren gab es allerdings auch Fälle, bei denen eine adäquate Versorgung für gravierende Erkrankungen nicht mehr gewährleistet werden konnte. Diese Situation kann eintreten, wenn ein patentgeschütztes Arzneimittel betroffen ist, für das es keine wirkstoffgleichen Alternativen gibt. Die neue Prophylaxe gegen RSV ist ein solcher Fall. Der hohe Bedarf an der Prophylaxe zur Immunisierung von Neugeborenen kann mit den aktuellen Produktionskapazitäten nicht vollumfänglich nachgekommen werden. Durch die fehlenden Alternativen besteht eine Unterversorgung, die im deutschen Markt nicht kompensiert werden kann.

Das Arzneimittelgesetz enthält für solche Fälle die Möglichkeit der Bekanntmachung eines Versorgungsmangels durch das BMG (§79 Abs. 5 AMG). Ist der Versorgungsmangel bekannt gemacht, ist es den Landesbehörden freigestellt, die Einfuhr und den Vertrieb des betreffenden Medikaments aus dem Ausland (sogar außerhalb der EU) zu gestatten und so den Mangel zu überbrücken. Um allen betroffenen Stakeholdern die notwendige Reaktionszeit einzuräumen, ist die frühzeitige Meldung eines antizipierten Engpasses an die zuständigen Oberbehörden (also BfArM oder PEI) besonders wichtig. Im Falle der RSV-Prophylaxe konnte dies dazu beitragen, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, bevor das Medikament nicht mehr zu Verfügung stand.

Diese Möglichkeit der Bekanntmachung eines Versorgungsmangels kann auch dann genutzt werden, wenn mehrere Zulassungsinhaber wirkstoffgleicher Arzneimittel von einem Engpass betroffen sind, so dass insgesamt zu wenig Medikamentenpackungen mit dem betreffenden Wirkstoff zur Verfügung stehen; oder wenn das sogar für Medikamente einer ganzen Wirkstoffgruppe gilt. Im großen Umfang war dies im Winter 2022/2023 zu beobachten, als die Infektionszahlen im Vergleich zu den Vorjahren ungewöhnlich hoch waren.

In der Folge war über Monate die Versorgung mit Antibiotika, insbesondere für Kinder, stark eingeschränkt und konnte nur durch Importe stabilisiert werden. Der Engpass wurde aber noch verstärkt, dass es zu unkontrollierter Bevorratung kam. Daher spielt das Vertrauen in die Versorgungssicherheit auch eine maßgebliche Rolle bei der Bekämpfung von Lieferengpässen. Für den aktuellen Lieferengpass bei Natriumchloridlösungen wurde im Spätsommer 2024 ebenso der Versorgungsmangel bekannt gemacht, um den laufend hohen Bedarf begegnen zu können.

Aufgrund der Einbettung in die EU und der zahlreichen europäischen Initiativen zur Vermeidung und Abmilderung von Lieferengpässen ist es nicht sinnvoll, die Versorgungssituation in Deutschland isoliert zu betrachten. Eine Harmonisierung der nationalen und europäischen Abläufe unter Nutzung der vorhandenen Ressourcen sollte daher angestrebt werden.

Wenn es um Lieferengpässe bei Arzneimitteln geht, steht schnell im Raum, dass sich die Abhängigkeit von China und Indien negativ auf die Verfügbarkeit der Arzneimittel in Deutschland auswirkt. Nach wie vor ist der Trend zur Verlagerung der Arzneimittelproduktion nach Fernost ungebrochen. China und Indien liefern unter anderem bei Antibiotika einen Großteil der benötigten Wirkstoff- und Fertigarzneimittelmengen weltweit.

In Deutschland und Europa stehen für Antibiotika nur noch vereinzelt Produktionsstätten zur Verfügung, deren Kapazitäten den europäischen Bedarf nicht decken kann. Während dieser Trend auf viele generische Wirkstoffe zutrifft, werden innovative Arzneimittel und Impfstoffe immer noch in der großen Mehrheit in Europa und den USA hergestellt. Bei innovativen Arzneimitteln ist darüber hinaus häufiger eine höhere Resilienz der Lieferketten und damit weniger Lieferengpässe festzustellen. Dafür sind eine höhere Diversifizierung der Lieferanten und vor allem größere Sicherheitsbestände verantwortlich.

Die Gründe für Lieferengpässe sind vielfältig und erstrecken sich von Problemen in der Wirkstoffherstellung über fehlende Produktionskapazitäten bis zu fehlenden oder fehlerhaften Packmitteln. Durch die hohe Regulierung des Arzneimittelmarktes gelten bereits kleine Abweichungen im Herstellungsprozess oder bei den Qualitätsmerkmalen als Grund für eine Verzögerung der Marktbereitstellung, auch dann, wenn die Abweichungen keinen Einfluss auf die Qualität des Arzneimittels haben. Ist beispielsweise, wie im Falle der Natriumchloridlösung, ein Packmittel nicht verfügbar, kann das Arzneimittel nicht zulassungskonform hergestellt werden, auch wenn ein alternatives Packmittel zur Verfügung steht.

Treten Probleme in der Wirkstoffproduktion, oder Endproduktherstellung auf kann ebenso wenig auf einen alternativen Hersteller zurückgegriffen werden, sofern dieser nicht im Vorfeld bereits qualifiziert wurde. Hinzu kommen die vielerorts ausgelasteten Kapazitäten der Produktionsstätten, in denen Nachfragesteigerungen meist nicht kurzfristig mit zusätzlichen Produktionen begegnet werden kann. Erschwerend kommt zu den knappen Kapazitäten der Fachkräftemangel hinzu, der auch pharmazeutischen Produktionsstätten ein limitierender Faktor für die Produktivität darstellt.

Neue nationale und internationale Gesetzgebungen können ebenfalls dazu führen, dass Änderungen in der Produktion erforderlich werden oder die Rentabilität sich ändert. So wird derzeit mit Sorge auf Entwicklungen hinsichtlich des PFAS-Verbotes, der Packaging and Packaging Waste Regulations (PPWR) oder die Urban Wastewater Treatment Directive (UWWTD) geblickt aber auch Änderungen in Good Manufacturing Practice (GMP) Leitlinien können weitreichende, zeit- und kostenintensive Anpassungen notwendig machen.

Fünf-Punkte-Plan

Wie Lieferengpässe bei Arzneimitteln behoben werden können

Die stabile Versorgung mit Medikamenten ist eine zentrale Aufgabe für unser Gesundheitssystem. Doch Lieferengpässe – ausgelöst beispielsweise durch globale Krisen wie die Corona-Pandemie oder geopolitische Konflikte – stellen eine erhebliche Herausforderung dar. Gerade bei innovativen Medikamenten ohne Alternativen können Engpässe gravierende Folgen für Patient:innen haben. Mit einem Fünf-Punkte-Plan macht der vfa Vorschläge, um diese Probleme nachhaltig zu lösen.

1. Frühwarnsysteme für Lieferketten etablieren

Die Arzneimittel-Lieferketten sind komplex. Ein Frühwarnsystem könnte Probleme frühzeitig erkennen und Gegenmaßnahmen ermöglichen. Die Bundesbehörde BfArM arbeitet bereits daran, bestehende Datenbanken zu erweitern und zu nutzen, um kritische Engpässe zu vermeiden. Auch auf EU-Ebene gibt es Projekte wie CHESSMEN, die einheitliche Überwachungsinstrumente schaffen sollen. Die Möglichkeiten von Big Data und Künstlicher Intelligenz bieten große Chancen, neue Datensätze - beispielsweise von SecurPharm - systematisch zu erschließen.

2. Lieferketten auf den Prüfstand stellen

3. Bei Lagerhaltung genau hinsehen

Erweiterte Lagerhaltung wird oft als Lösung gesehen, birgt jedoch Herausforderungen. So können Lagerkosten und der Kapitalaufwand hoch sein. Statt großer zentraler Lager wäre eine bessere Nutzung bestehender Bestände eine effektive Lösung, unterstützt durch ein effizientes Frühwarnsystem.

4. Reservekapazitäten aufbauen

Deutschland ist ein führender Standort für innovative Arzneimittel. Diese Stärke sollte genutzt werden, um Reservekapazitäten aufzubauen. Flexible Produktionsnetzwerke und vereinheitlichte Vorschriften zwischen der EU und den USA könnten Engpässe in Krisen minimieren. Gleichzeitig könnten Versicherungsmodelle ähnlich wie in der Pandemiebekämpfung helfen, Produktionskapazitäten vorzuhalten.

5. Innovation und Technologieführerschaft fördern

Ein starkes Innovationsnetzwerk ist essenziell - auch um die technologische Souveränität zu erhalten. Deutschland spielt eine wichtige Rolle im europäischen und globalen Gesundheitsmarkt. Durch bessere Bedingungen für Forschung und Produktion – etwa durch Patentschutz, digitale Sicherheit und Innovationscluster – können technologische Risiken minimiert und die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden.

Ausblick

Der vfa setzt sich auf nationaler und internationaler Ebene dafür ein, die Arzneimittelversorgung sicherzustellen. Mit dem Fünf-Punkte-Plan werden pragmatische und zukunftsorientierte Lösungen angeboten, um Lieferengpässe zu vermeiden und die Resilienz des Gesundheitssystems zu stärken.

vfa-Podcast #MacroScope zu Lieferengpässen bei Medikamenten