Forscher suchen Medikament gegen geistige Behinderung
Erlangen (dpa) - Bislang galt eine geistige Behinderung als unabwendbares Schicksal, doch nun testen Forscher ein Medikament dagegen. «Es gibt einen ersten Hoffnungsschimmer», sagte Prof. André Reis von der Universität Erlangen-Nürnberg im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. Beim fragilen X-Syndrom - der zweithäufigsten geistigen Behinderung, an der jeder 3000. Junge und in milderer Form auch manche Mädchen leiden - haben Experten eine brüchige Stelle auf dem X-Chromosom entdeckt, wodurch das Gen ausfällt.
Bei Tierversuchen habe sich gezeigt, dass ein bereits für eine andere Krankheit zugelassenes Medikament die Lernleistung der Betroffenen wesentlich steigern könnte. Anfang nächsten Jahres soll die Arznei deshalb an Menschen mit fragilem X-Syndrom auf ihre Wirksamkeit geprüft werden. «Das ist ein spannender Moment, weil sich jetzt eine neue Dimension öffnet», betonte Reis. Falsche Hoffnungen wollen die Spitzenforscher aus aller Welt, die die Thematik gerade auf der Jahrestagung der Wissenschaftsakademie Leopoldina in Erlangen diskutiert haben, jedoch nicht machen. «Das ist ein langer Weg.» Die Wissenschaftler denken hierbei in Generationen, nicht in Jahren.
Das Medikament würde nicht direkt beim defekten Protein ansetzen, sondern das gestörte Gleichgewicht zwischen der Hemmung und der Förderung der Signalübertragung in den Nervenzellen regulieren. Vereinfacht gesagt, werden die Betroffenen von den umgehemmt einströmenden Reizen überflutet und können sich deshalb schwer konzentrieren. «Man versucht, über den Rezeptor weniger Signale reinzugeben und dadurch das System zu beruhigen», erklärte Reis.
Defekte Gene sind in Deutschland wohl die Hauptursache für geistige Behinderungen, von denen das Down-Syndrom das häufigste ist. «Wahrscheinlich gibt es tausende Genanlagen, die durch eine Mutation zu einer geistigen Behinderung führen können», erläuterte Prof. Reis, der auch Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik ist. Allerdings könne man die genetische Ursache bislang häufig noch nicht nachweisen.
Wissenschaftler sprechen zumeist ab einem Intelligenzquotienten von unter 75 von einer geistigen Behinderung - in Deutschland sind zwei bis drei Prozent der Bevölkerung davon betroffen. Beim größten Teil dieser Menschen liegt laut Reis die Ursache in der Genetik und nicht in einem Geburtsschaden oder etwa einem Infekt der Mutter während der Schwangerschaft. Bei den erblichen Formen seien spontane Mutationen, bei denen aufgrund einer «Laune der Natur» bei der Zeugung ein genetischer Fehler passiere, am häufigsten.