Bispezifische Antikörper
Antikörper sind große Proteine des Immunsystems mit zwei Armen zum Anheften an ganz bestimmte Fremdmoleküle (Antigene). Sie lassen sich auf vielfältige Weise für neue Aufgaben abwandeln. Pharmaforschungsteams konnten daher bereits mehr als 113 zugelassene Original-Medikamente mit Antikörpern gegen unterschiedlichste Krankheiten entwickeln.
Zwei Arme für unterschiedliche Zwecke: Dieses Prinzip aus der Natur findet auch bei bispezifischen Antikörpern eine nützliche Anwendung.
Eine wachsende Zahl unter ihnen sind bispezifische Antikörper. Anders als ihre natürlichen Vorbilder binden sie mit ihren Armen jeweils an ein anderes Molekül. Das eröffnet besondere Möglichkeiten für die Therapie von Krebs- und anderen Erkrankungen.
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Bispezifische versus monospezifische Antikörper
Antikörper, bei denen die Bindungsstellen an beiden Armen identisch sind, heißen monospezifisch, also auf nur ein Antigen ausgerichtet. Alle bekannten natürlichen Antikörper zeigen diesen Aufbau.
Schon in den 1980er Jahren kamen allerdings Ideen für „bispezifische Antikörper“ auf, also solche, bei denen die zwei Arme jeweils unterschiedliche Bindungsstellen haben. Für bestimmte Anwendungen könnte das von Vorteil sein, dachte man sich. Die heute verfügbaren bispezifischen Antikörper bestätigen die Weitsicht dieses Ansatzes.
Monospezifischer Antikörper Bispezifischer Antikörper
Die folgende Tabelle bietet eine Übersicht über alle Medikamente mit bispezifischen Antikörpern, die eine EU-Zulassung haben oder gerade das EU-Zulassungsverfahren durchlaufen (Stand: 22.01.2024):
Antikörper | Krankheit | Wirkprinzip | Status | Jahr der Einführung in Deutschland | Epcoritamab | diffuse große B-Zell-Lymphome | T-Cell-Engagement | zugelassen | 2023 | Glofitamab | diffuse große B-Zell-Lymphome | T-Cell-Engagement | zugelassen | 2023 | Talquetamab | Multiples Myelom | T-Cell-Engagement | zugelassen | 2023 | Teclistamab | Multiples Myelom | T-Cell-Engagement | zugelassen | 2023 | Amivantamab | NSCLC | Blockade von zwei Signalweg-Komponenten | zugelassen | 2022, aber bald darauf wieder vom Markt genommen | Faricimab | feuchte altersbedingte Makuladegeneration, Makulaödem | Blockade von zwei Faktoren | zugelassen | 2022 | Mosunetuzumab | Follikuläre Lymphome | T-Cell-Engagement | zugelassen | 2022 | Emicizumab | Hämophilie A | Bindung von Faktor IX und Faktor Xa | zugelassen | 2018 | Blinatumomab | akute lymphatische Leukämie | T-Cell-Engagement | zugelassen | 2015 | Catumaxomab | Ascites durch Krebs | T-Cell-Engagement | tbd | 2009, aber nicht mehr vermarktet | Odronextamab | Non-Hodgkin-Lymphome | T-Cell-Engagement | im EU-Zulassungsverfahren | - |
Was sind bifunktionale Antikörper?
Bifunktionale Antikörper haben nicht – wie die bispezifischen Antikörper – zwei verschiedene Bindungsstellen an ihren Armen, sondern sind an anderer Stelle so abgewandelt worden, dass sie über eine zusätzliche Funktionalität verfügen. Beispielsweise ist bei ihnen noch ein Enzym angekoppelt worden.
Bispezifische Antikörper für die Krebstherapie
Die meisten zugelassenen bispezifischen Antikörper werden in der Krebstherapie eingesetzt, und zwar dafür, dass sie T-Zellen (also bestimmte Zellen des patienteneigenen Immunsystems) helfen, Krebszellen zu finden und abzutöten. Eigentlich sind die T-Zellen (oder zumindest einige von ihnen) so ausgerüstet, dass sie das ohne zusätzliche Hilfe können. Doch offensichtlich schaffen es Tumorzellen manchmal, sich den T-Zell-Patrouillen zu entziehen. Helfen können bifunktionale Antikörper in so einem Fall, indem sie sich mit einem Arm an eine T-Zelle heften und mit dem anderen an eine Tumorzelle. Wird eine T-Zelle derart mit einer Tumorzelle zusammengebracht, aktiviert sie das für ihre Aufgabe, und sie tötet die Krebszelle ab. Die Therapiestrategie heißt dementsprechend „T-Cell Engagement“.
Die Bindung an die T-Zelle erfolgt dabei stets an deren Oberflächenprotein CD3. An welchem Antigen ein bispezifischer Antikörper die Krebszelle zu fassen bekommt, ist abhängig davon, um welche Krebsart es geht.
Eine T-Zelle (links) und eine Tumorzelle werden durch einen bispezifischen Antikörper in Verbindung gebracht. Die T-Zelle wird die Tumorzelle anschließend zerstören.
Bispezifische Antikörper können aber auch noch auf andere Weise in der Krebstherapie eingesetzt werden, nämlich dafür, zeitgleich zwei Komponenten eines Signalwegs zu blockieren, über den die Tumorzellen zu ständigen Zellteilungen angetrieben werden. Bislang ist ein Antikörper mit diesem Wirkprinzip in der EU zugelassen (für die Behandlung einer speziellen Unterform von nicht-kleinzelligem Lungenkrebs [NSCLC]), aber er wird in Deutschland nicht vermarktet.
Ein Antikörper springt für einen Gerinnungsfaktor ein
Bispezifische Antikörper kommen auch für die Therapie anderer Erkrankungen in Betracht. So ist ein Antikörper zugelassen, der zeitgleich zwei Moleküle blockieren kann, die bei feuchter altersbedingter Makuladegeneration eine Rolle spielen.
Zukunft der Antikörper-Therapie
Antikörper sind die Basis für weitere neuartige Therapienstrategien. Davon berichtet eine Sonderpublikation der Paul-Martini-Stiftung mit dem Thieme-Verlag vom Juli 2024.
Ein anderer bispezifischer Antikörper kann für einen fehlenden Gerinnungsfaktor „einspringen“, den Faktor VIII. Dieser muss sich – wenn es zur Blutgerinnung kommen soll – einerseits an den Faktor IX und andererseits an den Faktor Xa binden. Menschen mit Hämophilie A, denen es aufgrund eines Gendefekts an Gerinnungsfaktor VIII mangelt, bekommen diesen Faktor normalerweise mit Infusionen oder Injektionen zugeführt. Einige von ihnen reagieren darauf aber nach einiger Zeit mit Abwehrreaktionen. Eine Behandlungsmöglichkeit bietet dann ein bispezifischer Antikörper, der mit passenden Bindungsstellen für Faktor IX und Faktor Xa ausgestattet wurde. Er sieht zwar ganz anders aus als Faktor VIII, erfüllt aber den gleichen Zweck und wird vom Körper nicht abgewehrt.
Nebenwirkungen
Welche Nebenwirkungen die Therapie mit einem bispezifischen Antikörper mit sich bringt, hängt stark vom einzelnen Produkt ab. Ist beispielsweise T-Cell Engagement das Wirkprinzip, kann es zu Nebenwirkungen kommen, wenn die Antikörper den T-Zellen mitunter auch gesunde Zellen zur Vernichtung „nahelegen“. Auch die Konstitution der Patientin oder des Patienten spielt für das Auftreten von Nebenwirkungen eine Rolle.
Eine Erfindung aus Deutschland
Bispezifische Antikörper sind eine Erfindung aus Deutschland: Erstmals wurde das Konzept von der deutschen Firma TRION Pharma (zusammen mit Fresenius) bei dem Antikörper Catumaxomab verwirklicht.(1)
Dieser wurde im Jahr 2000 zunächst als Medizinprodukt zugelassen, und zwar dafür, im Rahmen bestimmter Krebstherapien Stammzellen aus dem Knochenmark(2)
im Labor von Krebszellen zu reinigen, ehe sie dem Patienten oder der Patientin zurückgegeben werden. Im Jahr 2009 erhielt der Antikörper dann auch eine Arzneimittelzulassung zur Behandlung von Patient:innen mit malignem Ascites (Bauchwassersucht in Folge einer Krebserkrankung). Leider wurde Catumaxomab später aus wirtschaftlichen Gründen wieder vom Markt genommen. Eine Nachfolgefirma erprobt den Antikörper aber derzeit gegen weitere Krebsarten mit dem Ziel einer Marktrückkehr.
Auch der zweite bispezifische Antikörper, Blinatumomab, wurde in Deutschland erfunden und entwickelt – vom Unternehmen Micromet, das später von Amgen übernommen wurde. Zugelassen wurde er 2015 für die Therapie von Patient:innen mit akuter lymphatischer Leukämie. Es handelt sich dabei um einen stark verkürzten Antikörper: Er besteht nur aus zwei miteinander verbundenen „Unterarmen“ eines vollständigen Antikörpers. Der Hersteller nennt diese Antikörperkörpervariante BiTE.
Heutzutage werden in Deutschland weitere neue bispezifische Antikörper entwickelt, unter anderem am deutschen Standort von Amgen und bei BioNTech. Nur ist das mittlerweile keine exklusiv deutsche Angelegenheit mehr: Die bispezifischen Antikörper der Zukunft – von denen viele bereits in der klinischen Erprobung sind – kommen aus der ganzen Welt.
Fußnoten:
(1) Der Hersteller selbst charakterisierte seinen Antikörper als „trifunktional“ und drückte damit aus, dass dieser neben den beiden bispezifischen Bindungsstellen an den Armen noch eine dritte Bindungsstelle an anderer Stelle aufweist, über die er an noch eine weitere Immunzelle (z.B. einen Makrophagen) binden kann.
(2) Sie sind die Vorläufer aller Blutkörperchen.