Arzneimittelentwicklung gegen Adipositas
Je besser die Regulation von Appetit und Nährstoffverwertung im Körper verstanden wird, desto mehr Möglichkeiten tun sich auf, Medikamente gegen Adipositas, also extremes Übergewicht, zu entwickeln. Neben Prävention, Verhaltensänderungen, Sport und chirurgischen Maßnahmen können sie einen Beitrag dazu leisten, Adipositas zu überwinden oder zu reduzieren.
Die Verbreitung von Adipositas hat längst epidemische Ausmaße angenommen. Sie ist mit erheblichen Belastungen für die Betroffenen verbunden, insbesondere aufgrund von Folgeerkrankungen wie Diabetes Typ 2, Atherosklerose, Herzinfarkten und sogar einigen Krebsarten. Hierdurch verursacht Adipositas auch hohe Kosten für das Gesundheitswesen.
Adipositas und ihre Ursachen
Laut Weltgesundheitsorganisation WHO leiden Erwachsene dann an Adipositas, wenn sie einen Body Mass Index (BMI) von mindestens 30 aufweisen. Bei einem BMI von 25 bis unter 30 spricht die WHO hingegen von Übergewicht, und ein BMI von 18,5 bis unter 25 gilt ihr als Normalgewicht. Der BMI errechnet sich dabei als Körpergewicht dividiert durch das Quadrat der Körperhöhe, in kg/m2. Für Adipositas bei Kindern und Jugendlichen wendet die WHO eine kompliziertere Definition an, die sich vom WHO Child Growth Standards Median ableitet. Aber auch hier geht es um übermäßiges Körperfett.
Ein Missverhältnis von Nahrungskalorien und Energieverbrauch (vor allem durch Bewegung) über längere Zeit ist Hauptursache für Adipositas. Das wiederum ist multifaktoriell bedingt, etwa durch Art und Umfang des Nahrungsangebots, durch spezifische Regelkreisläufe im zentralen Nervensystem und durch soziale Umweltfaktoren. Auch bestimmte Medikamente und Gendefekte können eine Adipositas verursachen.
Das neueste aus der Adipositas-Forschung
Ein Workshop der Paul-Martini-Stiftung befasste sich im März 2023 mit den Ursachen und Komplikationen von Adipositas und mit den Behandlungsmöglichkeiten. Auch wurde diskutiert, wie das für Deutschland geplante "Disease Management Program Adipositas" ausgestaltet sein könnte. Viele Vorträge und die Diskussion sind auf der Website der Stiftung abrufbar.
Behandlungsmöglichkeiten
Laut Deutscher Adipositas Gesellschaft stellt eine Basistherapie aus Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltensinterventionen die Grundlage für die Adipositas-Behandlung dar. Wenn aber das Gewicht damit nicht zureichend gesenkt werden kann, kommen ihr zufolge andere Maßnahmen in Betracht.
Zu diesen zählen u.a. verschiedene Formen von Magenoperation.
Paul-Martini-Preise für Adipositas-Therapie
Gleich zweimal wurden Adipositas-Forscher mit dem Paul-Martini-Preis geehrt: 2014 Mathias Tschöp, München, u.a. für die Erfindung der GLP-1/GIP-Coagonisten, und 2020 Peter Kühnen, Berlin, für Studien zu Setmelanotid.
Aber auch die Pharmaforschung hat in den letzten Jahren wesentliche Erfolge verbuchen können. So ist seit kurzem ein Medikament verfügbar, das Patient:innen helfen kann, deren Adipositas die Folge bestimmter seltener Gendefekte ist (konkret: einem Funktionsverlust des biallelischen POMC-Gens inkl. PCSK1, ein POMC-Mangel oder ein biallelischer Leptinrezeptor-Mangel). Was andere Formen der Adipositas betrifft, so konnte für weitere Wirkstoffe, die zunächst gegen Diabetes Typ 2 entwickelt wurden, in Studien gezeigt werden, dass sie auch bei Nicht-Diabetiker:innen zu einer wesentlichen Gewichtsabnahme beitragen können. Diese Wirkstoffe wurden von den natürlichen Darmhormonen GLP-1 und GIP und z.T. noch anderen Hormonen abgeleitet. Für die Adipositas-Therapie sind bislang drei dieser Wirkstoffe zugelassen: zwei GLP-1-Agonisten und ein GLP-1/GIP-Coagonist (also ein Wirkstoff, der zugleich die Rezeptoren von GLP-1 und von GIP anspricht).
Die Arzneimittelentwicklung gegen Adipositas geht aber noch weiter. Einige Medikamente mit anderem Wirkprinzip werden derzeit in klinischen Studien geprüft, andere sind noch im Laborstadium.
Eine Übersicht zu den in Deutschland verfügbaren Medikamenten zur Adipositas-Therapie (ohne Homöopathika) sowie zu kürzlich zugelassenen Medikamenten vor der Markteinführung und zu Medikamenten im letzten Erprobungsstadium (Phase III) bietet die folgende Tabelle:
Wirkstoff des Medikaments | Wirkstoffklasse | Hersteller | zur Anwendung bei | Status für Adipositas-Behandlung von Erwachsenen | Status für Adipositas-Behandlung von Jugendlichen | Krankenkassen | Bemerkungen |
Orlistat | tbd | verschiedene Anbieter | Adipositas und Übergewicht ab BMI 28 in Verbindung mit Risikofaktoren | auf dem Markt | nicht zugelassen | keine Erstattung | k.A. |
Setmelanotid | Melanocortin-4 (MC4)-Rezeptoragonisten | Rhythm Pharmaceuticals | Adipositas aufgrund von Funktionsverlust des biallelischen POMC-Gens inkl. PCSK1, POMC-Mangel oder biallelischer Leptinrezeptor-Mangel | auf dem Markt | auf dem Markt mit Zulassung ab 6 Jahren | Erstattung | k.A. |
Liraglutid | GLP-1-Agonist | Novo Nordisk (Dänemark) | Adipositas ab BMI 30 oder Übergewicht ab BMI 27 i. Verb. mit Übdergewichts-bedingten Begleiterkrankungen (abweichend bei Jugendlichen: Adipositas äquivalent zu BMI 30 und mind. 60 kg Körpergewicht) | auf dem Markt | auf dem Markt | keine Erstattung | Wirkstoff in anderem Medikament auch zugelassen f. d. Therapie von Typ 2-Diabetes (die erstattet wird) |
Semaglutid | GLP-1-Agonist | Novo Nordisk (Dänemark) | Adipositas ab BMI 30 oder Übergewicht ab BMI 27 i. Verb. m. Übergewichts-bedingten Begleiterkrankungen (abweichend bei Jugendlichen ab 12 Jahren: Adipositas gemäß geschlechts- und altersspezifischen BMI-Wachstumstabellen und mind. 60 kg Körpergewicht) | auf der Markt | auf dem Markt mit Zulassung ab 12 Jahren | keine Erstattung | Wirkstoff in anderem Medikament auch zugelassen für die Therapie von Typ 2-Diabetes (die erstattet wird) |
Tirzepatid | GLP-1/GIP-Coagonist | Lilly (USA) | Adipositas ab BMI 30 oder Übergewicht ab BMI 27 i. Verb. mit Übdergewichts-bedingten Begleiterkrankungen | auf dem Markt; für die Adipositas-Therapie zugelassen seit 22.12.2023 | in klin. Erprobung Phase I | keine Erstattung | zuvor schon zugelassen f. d. Therapie von Typ 2-Diabetes (für die es seit 15.11.2023 vermarktet und auch erstattet wird) |
Mazdutide | GLP-1-/Glucagon-Coagonist | Innovent Biological (China) | tbd | in China im Zulassungsverfahren; für den Rest der Welt in Phase II | k.A. | tbd | k. A. |
Beinaglutid | GLP-1-Agonist | Shanghai Benemae Pharmaceutical (China) | tbd | in klin. Erprobung Phase III | k.A. | tbd | in China zugelassen und vermarktet für die Therapie von Typ 2-Diabetes |
Semaglutid + Cagrilintide (= NN-9388) | GLP-1-Agonist plus Amylin-Analogon | Novo Nordisk (Dänemark) | tbd; derzeit in Erprobung bei Adipositas ab BMI 30 | in klin. Erprobung Phase III | k.A. | tbd | wird auch für die Therapie von Typ 2-Diabetes erprobt |
Orforglipron | GLP-1-Agonist | Lilly (USA) (einlizensiert von Chugai) | tbd; derzeit in Erprobung bei Adipositas oder Übergewicht ab BMI 25, jeweils bei gleichzeitigem Typ 2-Diabetes | in klin. Erprobung Phase III | k.A. | tbd | wird auch für die Therapie von Typ 2-Diabetes erprobt |
Tesofensin | Dopamin-Noradrenalin-5HT-Wiederaufnahme-Inhibitor | Saniona (Dänemark) und Productos Medix (Mexiko) | tbd; wurde gegen Adipositas erprobt | in klin. Phase III (in Mexiko im Zulassungsverfahren) | k.A. | tbd | k.A. |
Ecnoglutid | GLP-1-Agonist | Sciwind (China) | tbd; derzeit in Erprobung bei Übergewicht ab BMI 24 mit Begleiterkrankungen oder Übergewicht/Adipositas ab BMI 28 unabhängig von Begleiterkrankungen | in klin. Erprobung Phase III | k.A. | tbd | k.A. |
Retatrutid | GLP-1/GIP/Glucagon-Triagonist | Lilly (USA) | tbd; in Erprobung bei Adipositas ab BMI 30 oder Übergewicht ab BMI 27 i. Verb. mit Übergewichts-bedingten Begleiterkrankungen | in klin. Erprobung Phase III | nein | tbd | wird auch für die Therapie von Typ 2-Diabetes erprobt |
Survodutide | GLP-1/Glucagon-Coagonist | Boehringer Ingelheim und Zealand Pharma | tbd; in Erprobung bei Adipositas ab BMI 30 oder Übergewicht ab BMI 27 i. Verb. mit Übergewichts-bedingten Begleiterkrankungen | in klin. Erprobung Phase III | nein | tbd | k. A. |
Pegapamodutide | GLP-1/Glucagon-Coagonist, lang wirksam | LeaderMed Pharmaceuticals | tbd | in klin. Erprobung Phase III | nein | tbd | auch in Entwicklung zur Therapie von Diabetes Typ 2 |
Noiiglutid | GLP-1-Agonist | Hansoh Pharmaceuticals (China) | tbd | in klin. Erprobung Phase III | k. A. | tbd | auch in Entwicklung zur Therapie von Diabetes Typ 2 |
Efpeglenatide (Langlenatide, SAR-439977) | GLP-1-Agonist, ein Exendin-4-Analogon, lang wirksam | Hanmi Pharmaceutical (Südkorea) | tbd | klin. Erprobung in Phase III in Vorbereitung | nein | tbd | auch in Entwicklung zur Therapie von Diabetes Typ 2 |
Unternehmen erproben derzeit weltweit weitere 37 Medikamente in Phase II mit Patient:innen. Die gehören teilweise zu bereits eingeführten Arzneimittelklassen, teilweise haben sie auch neue Wirkprinzipien. Zu den hier aktiven Unternehmen zählen beispielsweise die vfa-Unternehmen Amgen, Shionogi, Roche und Pfizer; und auch die Unternehmen Novo Nordisk und Lilly, die beide schon über zugelassene Adipositas-Medikamente verfügen, erproben weitere in Phase II.
Quelle: PharmaProjects Database, vfa-Recherchen, Pressemitteilungen der genannten Unternehmen
Stand: 04.04.2024
Prävention
Auch wenn sich die Behandlungsmöglichkeiten absehbar bessern, behält die Prävention von Adipositas überragende Bedeutung. Die WHO insistiert hierfür insbesondere auf Verhaltensänderungen beim Einzelnen, freiwillige oder verordnete Änderungen im Nahrungsmittelsortiment und mehr Angebote für körperliche Aktivität.
Rechtslage zur Erstattung von Medikamenten zur Gewichtsreduktion
Seit langem wird diskutiert, wie Adipositas einzustufen ist: Ist sie Krankheit oder Lifestyle-Problem? Das deutsche Sozialgesetzbuch (V, § 34) folgt seit Jahrzehnten letzterem Verständnis: Es verfügt, dass Krankenkassen keine Kosten für Medikamente übernehmen dürfen, die überwiegend zur Abmagerung, zur Zügelung des Appetits oder zur Regulierung des Körpergewichts dienen. In der Umsetzung dieses Gesetzes führt das oberste Gremium für Krankenkassenleistungen, der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), „Abmagerungsmittel“ in der Liste zum „Verordnungsausschluss von Arzneimitteln zur Erhöhung der Lebensqualität gemäß § 34 Abs. 1 Satz 7 SGB V (Lifestyle Arzneimittel)“. Nur die Behandlung von Gendefekt-verursachter Adipositas mit Setmelanotid (siehe oben) sieht er als Ausnahme vor. Der G-BA-Vorsitzende Josef Hecken wies in diesem Zusammenhang darauf hin, „dass die ‚Anerkennung‘ eines Beschwerdebildes als eine – im leistungsrechtlichen Sinne – behandlungsbedürftige Erkrankung nicht in der Kompetenz des G-BA liegt“.
vfa-Position
Bei Menschen mit Adipositas, also einem Body Mass Index (BMI) von 30 und mehr, liegt eine erhebliche Fehlregulation von Nahrungsaufnahme und Kalorienverbrauch vor, mit hohem Risiko für problematische Folgeerkrankungen. Und unabhängig von der Ursache (ungesunde Lebensweise, Genetik etc.) können sich die meisten Menschen aus dieser Lage ohne medizinische Intervention nicht mehr befreien. Gleiches gilt für Menschen mit einem BMI 27,0 - 29,9 (erhebliches Übergewicht), bei denen bereits Begleiterkrankungen eingetreten sind. Deshalb sieht der vfa "Adipositas" und „Überwicht ab BMI 27 mit Begleiterkrankungen“ als Krankheitsbilder an, und nicht als Lifestyle-Angelegenheiten.
Eine Entscheidung pro Erstattung von gewichtssenkenden Medikamenten mit diesen Anwendungsgebieten (nötigenfalls nach Gesetzesänderung) wäre im Sinne des deutschen Gesundheitswesens; denn es ist zu erwarten, dass der Einsatz dieser Medikamente die Häufigkeit, mit der Begleit- und Folgeerkrankungen auftreten, wesentlich senken würde.