Neue Wirkstoffe und Darreichungsformen
70 Prozent der Projekte mit Perspektive 2013 basieren auf 228 neuen Wirkstoffen (im Fachjargon: new molecular entities, NMEs); die übrigen auf Wirkstoffen, die schon eine Zulassung haben – aber in anderer Darreichungsform oder gegen eine andere Krankheit. Sie lassen sich nach Herstellungsart unterscheiden: Manche werden chemisch-synthetisch hergestellt, andere werden aus Naturstoffen gewonnen und dann entweder unverändert oder nach chemischer Abwandlung (als semisynthetische Wirkstoffe) verwendet, wieder andere werden gentechnisch hergestellt.
Chemisch hergestellte Wirkstoffe
Die chemische Synthese dürfte auch in den nächsten Jahren das meistverwendete Herstellungsverfahren für Wirkstoffe bleiben; denn 67 % der in der Umfrage genannten neuen Wirkstoffe werden so erzeugt (2007: 72 %). Anders als gentechnische Wirkstoffe lassen sich chemisch hergestellte meist zu Tabletten oder Kapseln verarbeiten, die leicht einzunehmen sind.
Im Jargon der Pharmaforscher werden chemisch erzeugte Wirkstoffe gerne als small molecules – als kleine Moleküle – bezeichnet, sind sie doch mit typischerweise 20 bis 100 Atomen deutlich kleiner als gentechnisch hergestellte Wirkstoffe (von denen die Insuline mit rund 790 Atomen die kleinsten, Antikörper mit rund 20.000 Atomen die größten sind) und natürliche Proteine (ab ca. 1.500 Atome), wie sie beispielsweise aus dem menschlichen Blut oder aus Erregern gewonnen werden.
Dank erheblicher Fortschritte in der Chemie ist die chemische Synthese allerdings nicht mehr auf kleine Moleküle beschränkt, und es ist nicht länger eine Frage des Könnens, sondern allein der Wirtschaftlichkeit, weshalb nicht auch alle "großen" Wirkstoffe chemisch produziert werden. Das derzeit größte chemisch synthetisierte Wirkstoffmolekül mit atomgenau festgelegtem Aufbau ist Corticorelin, das naturidentisch einem menschlichen Gehirnhormon nachgebildet ist. Bei seiner Herstellung werden 41 kleinere Moleküle zu einem Molekül mit 658 Atomen zusammengefügt. Nur einige chemisch hergestellte Polymer-Wirkstoffe sind noch größer; bei ihnen ist jedoch der Aufbau der Moleküle nicht ganz genau festgelegt.
Naturstoffe und semisynthetische Wirkstoffe
Seit Jahrhunderten spielen Naturstoffe aus Bakterien, Pilzen, Pflanzen und Tieren eine wichtige Rolle in der Medizin; seit einigen Jahrzehnten auch solche aus menschlichem Blut. Sie alle werden von Organismen auf natürliche Weise – das heißt, ohne Anwendung von Gentechnik – produziert. Dazu kommen noch solche Wirkstoffe, die aus Naturstoffen durch chemische Nachbearbeitung entstehen; sie werden semisynthetisch genannt. Auch viele Naturstoffe sind den small molecules zuzurechnen.
Neue pharmaeutisch interessante Naturstoffe werden vor allem in Bakterien und Pilzen gefunden
Wirkstoffe, die Natur- und semisynthetische Stoffe sind, finden sich unter anderem in den meisten Antibiotika, in einigen Krebsmedikamenten und in Mitteln für Organtransplantierte. Auch die meisten Impfstoffe enthalten Naturstoffe, nämlich Bestandteile von Bakterien oder Viren, gegen die der Geimpfte eine Abwehr aufbauen soll. Insgesamt 26 (11 %; 2007: 7 %) der in der Umfrage genannten neuen Wirkstoffe sind Natur- oder semisynthetische Stoffe: Zwei wirken gegen Bakterien, sechs gegen Krebs und zwölf sind als Antigene in Impfstoffen enthalten.
Oft versuchen Arzneiforscher, die Natur als Inspirationsquelle für Wirkstoffe zu nutzen, diese selbst dann aber chemisch zu erzeugen. Ein Beispiel hierfür ist Eribulin: Dieser Wirkstoff, der derzeit gegen Brustkrebs erprobt wird, ist synthetisch einer Substanzaus einem Meeresschwamm nachgebildet. Mindestens sieben der neuen chemisch-synthetischen Wirkstoffe sind Kopien oder – öfter – Abwandlungen natürlicher Vorbilder.
Gentechnische Wirkstoffe
Fast alle gentechnischen Arzneimittel müssen gespritzt werden, und das oft über Monate oder Jahre. Dank moderner Injektionshilfen, wie der gezeigten, können das die Patienten oft selbst übernehmen.Im Mai 2009 waren 134 Arzneimittel mit 99 verschiedenen gentechnisch hergestellten Wirkstoffen für Deutschland zugelassen (laufend aktualisierte Liste: www.vfa.de/gentech), darunter auch viele Impfstoffe. Damit waren rund 4 % aller schulmedizinischen Wirkstoffe (laut Arzneimittelverzeichnis Rote Liste) gentechnischen Ursprungs. Ihr Anteil dürfte wachsen, denn an den neuen Wirkstoffen mit ’Perspektive 2013 haben die 51 gentechnischen schon einen Anteil von 22 % (2007: 21%).
Produziert werden gentechnische Wirkstoffe fast immer in großen Tanks (den Fermentern), mit Bakterien, Hefe- oder Säugetierzellen. Fast alle gentechnischen Präparate müssen gespritzt oder als Infusion verabreicht werden; nur ein Präparat ist auf dem Markt, das inhaliert werden kann. Bis Ende 2013 dürfte sich daran nichts ändern.
Eine besondere Klasse gentechnischer Wirkstoffe wächst besonders rasch: die der monoklonalen Antikörper. Natürliche Antikörper sind Moleküle, die von menschlichen Immunzellen zur Abwehr von Erregern und Fremdstoffen gebildet werden; sie wirken, indem sie sich sehr gezielt an diese binden. Monoklonale Antikörper werden außerhalb des Körpers in Fermentern hergestellt. Werden sie gespritzt, binden sie sich an bestimmte Moleküle oder Zellen des menschlichen Körpers. Das blockiert deren Mitwirkung am Krankheitsgeschehen oder veranlasst, dass das Immunsystem sie zerstört. Im Mai 2009 waren in Deutschland 20 monoklonale Antikörper u. a. gegen rheumatoide Arthritis und verschiedene Krebsarten auf dem Markt. Bis 2013 könnten durch die Arbeit der vfa-Unternehmen noch 30 weitere hinzukommen. Gentechnik ermöglicht auch einige Impfstoffe, die mit herkömmlichen Methoden nicht verwirklicht werden konnten, etwa gegen Malaria, Genitalherpes und bakterielle Hirnhautentzündung durch Meningokokken B.
Neuer Einsatz für bekannte Wirkstoffe
Fortschritt findet nicht nur durch neue Wirkstoffe statt. Ebenso wichtig sind neue Darreichungsformen, die einen bekannten Wirkstoff wirksamer oder verträglicher machen oder seine Anwendung auf neue Krankheiten erweitern. Hilfreich für Patientensind auch Präparate, in denen häufig zusammen verordnete Wirkstoffe in einem Medikament vereinigt werden. Bis zu 105 solcher Neuerungen – sie heißen auch galenische Innovationen – sollen bis 2013 auf den Markt kommen. Ein Beispiel ist ein Nasenspray zur Linderung akuter Symptome beim Restless-Legs-Syndrom, einer Nervenstörung. Andere Unternehmen entwickeln inhalierbare Antibiotika. Die darin enthaltenen Wirkstoffe konnte man bisher nur spritzen. Die neuen Präparate sind für Patienten mit Mukoviszidose gedacht, einer seltenen Erbkrankheit, die unter anderem die Lunge in Mitleidenschaft zieht. Für einen Wirkstoff, der zur Leukämiebehandlung mit Infusionen verabreicht wird, konnte eine Tablettenform entwickelt werden, die nun bei Multipler Sklerose erprobt wird.
Zwischen den Wirkstoffmolekülen gibt es erhebliche Größenunterschiede:
A Das chemisch hergestellte Schmerzmittel ASS besteht aus nur 21 Atomen,
B der ebenfalls chemisch hergestellte Blutdrucksenker (Typ ACE-Hemmer) Rampiril aus 62 Atomen,
C der Naturstoff Ciclosporin zur Immunsuppression aus 196 Atomen,
D die gentechnischen Insuline bestehen aus rund 790 Atomen und
E die ebenfalls gentechnisch erzeugten monoklonalen Antikörper aus rund 20.000 Atomen.