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Geschlechtsunterschiede in der Pharmaforschung

Medikamente, die für Männer und Frauen bestimmt sind, werden auch mit Männern und Frauen erprobt. Das verlangen die Zulassungsbehörden und das deutsche Gesetz. Die Studienergebnisse für beide Geschlechter werden verglichen und gehen auch in die frühe Nutzenbewertung ein, die jedes neue Medikament in Deutschland durchlaufen muss.

Porträtaufnahme eines seniorigen Paares (Mann und Frau)

Wird ein Medikament hingegen nur mit einem Geschlecht untersucht, erhält es auch nur für dieses eine Zulassung. Aus diesem Grund wurden einige Medikamente gegen Osteoporose und Brustkrebs nur für Frauen zugelassen, obwohl diese Krankheiten in seltenen Fällen auch Männer treffen kann – z. B. im Falle von Brustkrebs hierzulande rund 500 Männer gegenüber 70.000 Frauen pro Jahr. Ein anderes Medikament, gegen chronische Verstopfung, wurde zunächst nur für Frauen zugelassen; die Zulassung für Männer folgte erst, nachdem es durch weitere Studien auch mit genügend Männern erprobt worden war.(1)


Die Erprobung von Medikamenten mit Menschen vor der Zulassung erfolgt in drei Phasen:

  • in Phase I in Studien mit wenigen Gesunden
  • in Phase II in Studien mit wenigen Kranken
  • in Phase III in Studien mit vielen Kranken

An einer Teilnahme interessierte Frauen und Mädchen im fortpflanzungsfähigen Alter dürfen nachgewiesen nicht schwanger sein und müssen sich zu zuverlässiger Verhütung verpflichten – das gilt für Gesunde wie Erkrankte. In der Regel wird Verhütung mit zwei Methoden zugleich verlangt. Unternehmen haben ein großes Interesse daran, dass sowohl Patientinnen als auch Patienten an den Studien teilnehmen; denn je schneller es gelingt, die nötige Teilnehmerzahl zusammen zu bekommen, desto schneller schreitet die Medikamentenentwicklung voran.

Nur bei den ersten Studien mit einem Medikament überhaupt werden meist ausschließlich männliche gesunde Teilnehmer benötigt. Es handelt sich um Studien, bei denen nicht die Wirkung, sondern zunächst einmal das „Verhalten“ des neuen Wirkstoffs im Körper untersucht werden muss; und dies im einfachsten Fall, d. h. ohne Einfluss von Hormonschwankungen oder hormonellen Verhütungsmitteln. Das ist am ehesten mit Männern zu realisieren. Die Ergebnisse müssen aber anschließend mit Frauen überprüft werden. Dementsprechend findet sich in der Summe aller Phase-I-Studien für ein Medikament ein Frauenteil von 10 bis 40 Prozent.

Bei den Studien mit Erkrankten in den Phasen II und III sind dann aber 30 bis 80 Prozent Teilnehmerinnen (70 bis 20 Prozent männliche Teilnehmer) beteiligt, wenn die Krankheit bei beiden Geschlechtern vorkommt.

Ob es Unterschiede in der Wirksamkeit oder Verträglichkeit eines neuen Medikaments bei Frauen und Männern gibt, lässt sich vor allem in den Studien der Phase III feststellen, weil hier viel mehr Erkrankte mitwirken als in den vorangegangenen Phasen. Dabei ist es nicht nötig, dass gleich viele Männer wie Frauen teilnehmen. Nötig für den Vergleich ist nur, dass von jedem Geschlecht eine genügend große Zahl von Behandlungen ausgewertet werden kann; und das ist der Fall.

In der Regel ausreichend gleich ...

Was sich bei der geschlechtsspezifischen Auswertung der Studien ergibt, führt zu einem Gesamtbild, das einen Regelfall und ein paar Ausnahmen umfasst. Zunächst zum Regelfall:

Bei der Erprobung von Medikamenten lassen sich in der Tat oft statistische Unterschiede zwischen Frauen und Männern finden, wenn es um die mittlere Konzentration und Verweildauer von Wirkstoffen im Blut geht. Diese Differenzen sind aber fast immer geringer als die individuellen Unterschiede von Mensch zu Mensch. Anders gesagt: Ob man dick oder dünn, trainiert oder untrainiert ist, ob man junge oder alte Nieren hat, ob man raucht oder nicht – all das ändert das Verhalten eines Medikaments im Körper stärker als das Geschlecht.

Pharmaforschern ist es zudem meist gelungen, solche Medikamente zu entwickeln, bei denen es für Wirkung und Nebenwirkungen keine Rolle spielt, ob Konzentration und Verweildauer im Körper etwas höher oder etwas niedriger sind. Deren Anwendung muss daher nicht je nach Patient anders erfolgen.

Aber es gibt Medikamente, bei denen es tatsächlich darauf ankommt, dass die Wirkstoffkonzentration genau auf die zu behandelnde Person abgestimmt ist, eventuell sogar situativ wechselnd. So ist es bei Insulin und einigen älteren Gerinnungshemmern zur Thrombose- und Schlaganfall-Vorbeugung (den Vitamin-K-Antagonisten, oft „Blutverdünner“ genannt): Die Insulindosis wird meist zu jeder Mahlzeit neu festgelegt; die Dosis der "Blutverdünner" meist wöchentlich. Jede eventuell nötige Anpassung an das Geschlecht wird dabei gleich mit erledigt.

... doch es gibt Ausnahmen

In manchen Fällen haben sich in Studien doch geschlechtsbezogene Unterschiede gezeigt:

  • Ein Präparat gegen Haarausfall (Wirkstoff: Minoxidil) muss bei Frauen und Männern unterschiedlich dosiert werden. Es wird daher in einer jeweils eigenen Aufmachung für Männer bzw. Frauen angeboten.
  • Ein Hormon-Medikament (Wirkstoff: Follitropin) zur Behandlung von Fruchtbarkeitsstörungen (Ei- bzw. Spermienreifung) muss bei Männern und Frauen unterschiedlich dosiert werden.
  • Ein Medikament gegen Verstopfung (Wirkstoff: Prucaloprid) soll bei Männern höher dosiert werden als bei Frauen.
  • Ein Medikamente gegen Lipodystrophien (Wirkstoff: Metreleptin) soll bei Frauen höher dosiert werden als bei Männern.
  • Bei einem Medikament gegen Wachstumssstörungen für Erwachsene (Wirkstoff: Somapacitan) ist für Frauen, die mit Östrogen behandelt werden, eine höhere Anfangsdosis angeraten als für andere Frauen und Männer.
  • Ein Medikament gegen Osteoporose (Wirkstoff: Romosozumab) erhielt nur für Frauen eine Zulassung, weil es in Studien bei Männern häufiger zu schweren Nebenwirkungen führte.
  • Ein Medikament gegen Schlafstörung (Wirkstoff: Zolpidem) muss individuell dosiert werden. In den USA ist für den Startpunkt der Dosisfindung für Männer und Frauen jeweils ein anderer Wert für Frauen angegeben.

Ein Medikament mit Semaglutid ist u.a. für die Adipositas-Therapie von Jugendlichen ab 12 Jahren zugelassen. Geschlechtsspezifische Unterschiede haben sich nicht gezeigt. Allerdings sieht die Medizin Adipositas bei Mädchen erst bei etwas höheren Body-Mass-Index-Werten als gegeben an als bei Jungen. Eine Tabelle dazu findet sich in diesem EMA-Dokument (S. 4, Tabelle 1).

Zudem ist ein Medikament gegen Osteoporose (Wirkstoff Abaloparatid) bisher in der EU nur für Frauen zugelassen; in den USA aber auch schon zusätzlich für Männer. Dort ist für beide Geschlechter die gleiche Dosierung vorgesehen.

Weitere Forschungsarbeiten zu Geschlechtsunterschieden in der Wirksamkeit und Verträglichkeit von Medikamenten sind wichtig, um noch mehr solcher Ausnahmen zu finden.

Ergebnisse der geschlechtsspezifischen Auswertung

Was die geschlechtsspezifische Auswertung von zulassungsrelevanten Studien zu neuen Medikamenten ergeben hat, findet sich in den Dossiers, die die Hersteller zu ihren neuen Medikamenten beim Gemeinsamen Bundesausschuss einreichen müssen, damit dieser eine frühe Nutzenbewertung durchführen kann (jeweils Modul 4; Unterkapitel 4.2.5.5 und 4.3.1). Sie sind auf der Website des G-BA publiziert.

Bei den von der europäischen Zulassungsbehörde EMA bewerteten und zugelassenen Präparaten finden sich unter dem Stichwort „gender“ entsprechende Ergebnisse in den ausführlichen, in Englisch verfügbaren europäischen öffentlichen Bewertungsberichten (EPARs).

Für ältere Medikamente liefern die Packungsbeilagen und Fachinformationen (d. h. die erweiterten Fassungen der Packungsbeilagen, die für Ärzte und Apotheker erstellt werden) Angaben über geschlechtsspezifische Unterschiede, wenn solche in der Behandlung zu berücksichtigen sind. Bei Medikamenten, bei denen sich keine relevanten Unterschiede gezeigt haben, sind solche Angaben hingegen meist nicht aufgeführt – was aber nicht bedeutet, dass das nie untersucht worden wäre.

Weitere Informationen zum Thema finden sich im vfa-Positionspapier "Berücksichtigung von Frauen in der Arzneimittelforschung".

(1) Nur in seltenen Fällen machen die Zulassungsbehörden eine Ausnahme. So treten Hämophilie A und B (zwei angeborene Gerinnungsschwächen) fast ausschließlich bei Jungen und Männern auf. Dementsprechend können auch kaum Mädchen oder Frauen an Studien mit Medikamenten dagegen teilnehmen (vgl. clinicaltrials.gov). Die Medikamente – es sind zumeist Konzentrate mit dem jeweils fehlenden Gerinnungsfaktor – sind dennoch auch für die wenigen weiblichen Erkrankten zugelassen worden.