Antikörper-Wirkstoff-Konjugate
Antikörper-Wirkstoff-Konjugate (Antibody Drug Conjugates) sind eine wachsende Gruppe von zielgerichteten Krebsmedikamente. Unternehmen arbeiten daran, sie noch wirksamer und für immer weitere Krebsarten nutzbar zu machen.
Modell eines Antikörper-Wirkstoff-Konjugats: An den Antikörper (weiß) sind vier chemotherapeutische Wirkstoff (rot) gebunden.
Trotz großer Fortschritte in der Immunonkologie und anderen Feldern der medikamentösen Krebsmedizin bleibt das Bekämpfen von Krebszellen durch Chemotherapie für etliche Betroffene eine wichtige Behandlungsmöglichkeit. Oft können die Chemotherapeutika allerdings nicht so hoch dosiert werden, wie es für eine optimale Wirksamkeit wünschenswert wäre; denn das ginge mit unerträglichen Nebenwirkungen einher. Schließlich sind Chemotherapeutika relativ ungezielt wirksam: Sie greifen nicht nur Tumorzellen an, sondern auch viele andere teilungsaktive Zellen, was dem Knochenmark, der Leber und weiteren Organen zusetzen kann.
Das ist anders bei einer anderen Gruppe von Wirkstoffen in der Krebsmedizin: therapeutische Antikörper gegen maligne Zellen. Sie konnten gegen solche Krebsarten bzw. ihre Unterformen entwickelt werden, bei denen die Tumorzellen charakteristische Oberflächenproteine tragen, die bei gesunden Zellen nicht oder nur in weitaus geringerer Menge vorkommen. Die Antikörper zirkulieren nach dem Infundieren im Körper, um sich dann vor allem an die betreffenden Krebszellen zu heften. Damit markieren sie diese so, dass Immunzellen sie erkennen und bekämpfen.
Schon früh hatten Pharmaforschungsteams die Idee, beides zu verbinden: die Selektivität von Antikörpern mit der zellabtötenden Wirkung von Chemotherapeutika. „Verbinden“ ist dabei wörtlich gemeint: Denn bei den daraufhin entwickelten Wirkstoffen sind ein Antikörper und ein oder mehrere Chemotherapeutika-Moleküle chemisch verbunden worden – direkt oder über eine verbindende Molekülstruktur, die Linker genannt wird. Das Ganze wird dann Antikörper-Wirkstoff-Konjugat genannt (von lateinisch „conjugare“ = „verbinden, zusammenschließen“), oder englisch Antibody Drug Conjugate (ADC).
Nach einer Infusion sorgt der Antikörper-Teil der ADCs dafür, dass diese vor allem an die Krebszellen gelangen und weitaus weniger in andere Gewebe. Die gebundenen Konjugate werden von den Zellen sodann ins Innere befördert, wo die Chemotherapeutika-Moleküle freigesetzt werden. Diese schädigen die Tumorzellen dann so nachhaltig, dass diese ihre Selbstzerstörung (Apoptose) einleiten.
Eine Krebsart, für die eine solche Behandlung beispielsweise in Betracht kommt, ist HER2-positiver Brustkrebs. Hierbei tragen die Brustkrebszellen den Rezeptor HER2 im Übermaß auf ihrer Oberfläche. Antikörper, die sich gezielt daran binden, sind schon seit dem Jahr 2000 zugelassen. Zwei Unternehmen haben solche Antikörper vor einigen Jahren mit Chemotherapeutika gekoppelt und bieten sie für eine Therapie von Patient:innen an, bei denen vorangegangene Therapien nicht oder nicht mehr wirksam sind.
Zugelassene ADCs gibt es darüber hinaus auch für eine ganze Reihe weiterer Krebsarten, darunter sowohl solide Tumore (wie z.B. Blasenkrebs) als auch hämatologische Tumore (wie etwa Multiples Myelom oder bestimmte B-Zell-Lymphome).
Die Chemotherapeutika in den Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten
Man könnte vermuten, dass für die Entwicklung von ADCs einfach die Chemotherapeutika verwendet werden, die schon seit dem 20. Jahrhundert in der Krebsmedizin eingesetzt werden; doch ist das nicht der Fall. Vielmehr werden dafür vor allem solche Chemotherapeutika herangezogen, bei denen schon vergleichsweise wenige Moleküle eine stark zellschädigende Wirkung erzielen.
Auffällig ist, dass die in ADCs verwendeten Chemotherapeutika in der Regel von Giftstoffen aus der Natur abgeleitet sind – auch wenn sie selbst chemisch hergestellt werden. Das zeigt die folgende Tabelle:
Bezeichnung für das linkergebundene Chemotherapeutikum im Wirkstoffnamen eines ADC | Beim Chemotherapeutikum handelt es sich um ... | Vorbild ist ein Stoff aus ... | Wirkprinzip |
Deruxtecan | ein Camptothecin-Derivat | dem Baum Camptotheca acuminata | Inhibition der Topoisomerase I |
Duocarmycin | eins der Duocarmycine | bestimmten Bakterien der Gattung Streptomyces | Alkylierung der DNA |
Emtansin | das Maytansinoid DM1, ein Maytansin-Derivat | dem Strauch Maytenus serrata | Inhibition der Mikrotubulibildung |
Govitecan | ein Camptothecin-Derivat | dem Baum Camptotheca acuminata | Inhibition der Topoisomerase I |
Mafodotin | ein Dolastatin-Derivat | der Meeres-Nacktschnecke Dolabella auricilaria | Inhibition der Mikrotubulibildung |
Mertansin | das Maytansinoid DM1, ein Maytansin-Derivat | dem Strauch Maytenus ovatus | Inhibition der Mikrotubulibildung |
Ozogamicin | ein Calicheamin | dem Bakterium Micromonospora echinospora | Hervorrufen von Doppelstrangbrüchen in der DNA |
Ravtansin | das Maytansinoid DM4, ein Maytansin-Derivat | dem Strauch Maytenus ovatus | Inhibition der Mikrotubulibildung |
Soravtansin | das Maytansinoid DM4, ein Maytansin-Derivat | dem Strauch Maytenus ovatus | Inhibition der Mikrotubulibildung |
Tesirin | ein Pyrrolo-benzodiazepin-Dimer | natürliche Pyrrolo-benzodiazepin-Monomere wie Anthramycin oder Sibiromycin aus den Bakterien Streptomyces refuineus bzw. Streptosporangium sibiricum | Schädigung der DNA |
Vedotin | ein Dolastatin-Derivat | der Meeres-Nacktschnecke Dolabella auricilaria | Inhibition der Mikrotubulibildung |
Erprobt werden derzeit u.a. auch ADCs, die das Knollenblätterpilz-Gift Amanitin enthalten.
Anwendung von Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten
ADCs werden bislang vor allem eingesetzt, wenn Patient:innen auf bisherige Therapien nicht oder nicht mehr angesprochen haben und es darum geht, ihr Überleben zu verlängern. In diesen Anwendungen werden sie vergleichsweise hoch dosiert, so dass auch sie dann zu Nebenwirkungen wie etwa Haarausfall, Leberkomplikationen und Störungen der Blutbildung führen können. In vergleichenden Studien zeigen sie sich in dieser Therapiesituation aber in ihrer Wirksamkeit hinsichtlich verschiedener Wirksamkeitskriterien als überlegen, beispielsweise bezüglich der Zeit, bis beim Tumor wieder eine Verschlechterung der Situation beobachtet wurde.
Konjugate mit Radiopharmaka
Video: Entwicklung von Radiopharmaka auf Antikörperbasis
In einem Vortrag bei der Paul-Martini-Stiftung im April 2024 erläuterte Prof. Dr. Theresa Kolben, Bayer AG, die Entwicklung von zielgerichteten Radiopharmaka auf Basis von Antikörpern und Alphastrahlern.
Neben Chemotherapeutika kommen als „Payload“ (so der Pharma-Jargon) für ein Antikörper-Wirkstoff-Konjugat auch Radiopharmaka in Betracht, also chemische Verbindungen, deren radioaktive Atome beim Zerfall Strahlung kurzer Reichweite (Alpha- oder Betastrahlen) aussenden. Dank der selektiven Bindung der Antikörper konzentriert sich die radioaktive Strahlung dann direkt auf den Tumor: gewissermaßen wird eine Strahlentherapie von innen vollzogen.
Bislang ist nur ein solches Antikörper-Radiopharmakon-Konjugat zugelassen (gegen verschiedene Lymphome), doch weitere könnten in der Zukunft folgen.
Antikörper-Wirkstoff-Konjugate in Entwicklung
Unternehmen arbeiten an vielen weiteren Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten. Derzeit (Stand 08.04.2024) befinden sich gerade zwei im Zulassungsverfahren; 14 werden in abschließenden Studien der Phase III mit zahlreichen Patient:innen erprobt; mehr als 60 weitere in kleineren Studien der Phase II, mit weniger Patient:innen.
Den Unternehmen geht es zum einen darum, auch Patienten und Patientinnen mit weiteren Krebsarten eine Behandlung mit Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten zu ermöglichen. Zum anderen suchen sie auch nach Möglichkeiten, die Wirksamkeit der ADC-Therapien noch zu steigern. Das kann beispielsweise dadurch erreicht werden, dass die Zahl der Chemotherapeutika-Moleküle, die ein Antikörper als Payload mitbekommt, noch weiter erhöht wird.
Außerdem erproben mehrere Unternehmen neue Linker-Moleküle, die die Chemotherapeutika noch zuverlässiger an den Antikörper binden. Das soll der Verträglichkeit der Konjugate zugute kommen.
Zukunft der Antikörper-Therapie
Antikörper sind die Basis für weitere neuartige Therapienstrategien. Davon berichtet eine Sonderpublikation der Paul-Martini-Stiftung mit dem Thieme-Verlag vom Juli 2024.
Einige Unternehmen entwickeln auch noch einen ganz neuen Typ von ADC: sogenannte Immunzytokine. Bei diesen sind es ein oder mehrere Zytokin-Moleküle, die über Linker mit einem Antikörper verbunden sind. Zytokine sind Botenstoffe des Immunsystems, mit denen Immunzellen andere Immunzellen zu bestimmten Handlungen bringen können. Das kann grundsätzlich auch für therapeutische Zwecke genutzt werden; doch steht dem im Wege, dass sie bei intravenöser Verabreichung auch in Organen wirksam sind, in denen sie gar keinen Effekt erzielen sollen. Durch Kopplung mit einem Antikörper jedoch kann ihre Wirkung weitgehend auf bestimmte Zellen fokussiert werden. Dieses Therapieprinzip stellte Prof. Dr. Stefan Zielonka, Merck und TH Darmstadt, im April 2024 auf einem Workshop der Paul-Martini-Stiftung vor.
Standort Deutschland
Auch in Deutschland arbeiten einige Unternehmen an weiteren Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten – im Alleingang oder in Kooperation mit anderen Unternehmen. Sie bringen dann beispielsweise ihre Kompetenz für ein bestimmtes Zellgift in die Kooperation ein oder organisieren die klinische Entwicklung für ein andernorts erfundenes Medikament.
Ein Unternehmen hat 2024 angekündigt, hierzulande in den kommenden Jahren ein großes Werk für die Produktion von ADC-Medikamenten aufzubauen und weitere zu entwickeln.