Nach der Pandemie: Wie entwickelt sich das Impfverhalten in Deutschland?
Drei Jahre lang ging es beim Thema „Impfen“ fast nur um Covid-19. Wie verhielt es sich in dieser Zeit eigentlich mit Schutzimpfungen gegen andere Krankheiten? Wie entwickelt sich das deutsche Impfgeschehen nun nach den Ausnahmeregelungen der Pandemie weiter? Verordnungszahlen aus den Pandemiejahren zeigen interessante Trends.
Am Osterwochenende gingen im April 2023 die letzten Regelungen zur Eindämmung von SARS-CoV-2 zu Ende. Der Rückblick offenbart gravierende Auswirkungen dieser Regelungen auf viele Bereiche des Alltags und auf die gesundheitliche Selbstverantwortung.
Reiseimpfungen: Nach Rückgang folgt Rückkehr
Sehr auffällig sind diese Auswirkungen auch im Bereich der Schutzimpfungen. So führten die Einschränkungen von Auslandsreisen dazu, dass in den Jahren 2020 und vor allem 2021 signifikant weniger Reiseimpfungen verordnet wurden als noch 2019. Zu den Reiseimpfungen zählen solche, die vor Krankheiten schützen, die nicht oder nur selten in Deutschland vorkommen (z.B. Gelbfieber, Japanische Enzephalitis oder Cholera).
Kostenerstattung Reiseimpfung
Menschen, die aus beruflichen Gründen in Länder reisen, in denen Erreger bestimmter impfpräventabler Erkrankungen vorkommen, werden die entsprechenden Impfungen erstattet. Privatreisende haben keinen automatischen Anspruch auf Erstattung, doch viele gesetzliche Krankenkassen erstatten die meisten Reiseimpfungen dennoch. Für Versicherte bedeutet das, dass sie in Vorleistung gehen müssen. Die Kosten für das Vakzin können anschließend gemeinsam mit der Rechnung der Arztpraxis bei der Krankenkasse eingereicht werden.
Für 2022 ist wieder eine Zunahme an verordneten Reiseimpfungen zu beobachten. Eine plausible Erklärung ist, dass sich dies auf die weniger starken Reisebeschränkungen zurückführen lässt.
Abbildung 1: Die Verordnungszahlen von Reiseimpfungen für gesetzlich Versicherte waren geprägt vom niedrigen Reiseaufkommen während der Pandemie. Im vergangenen Jahr sind die Zahlen wieder kräftig angestiegen und erreichen fast präpandemisches Niveau. (Die Grafik zeigt die durchschnittlichen Werte für Verordnungen für Impfungen gegen Cholera, Gelbfieber, Japanische Enzephalitis, Tollwut, Typhus).
Doch auch bei anderen Schutzimpfungen sind in Deutschland pandemiebedingte Effekte zu beobachten. Das erhöhte Bewusstsein für Infektionen der Atemwege dürfte unter anderem der Grund sein, weshalb es früh in der Pandemie verstärkt zu Impfungen gegen Influenza und Pneumokokkeninfektionen kam. Ein langfristiger Effekt hinsichtlich nachhaltig höherer Impfquoten blieb allerdings aus, und nach einem kurzfristigen Hoch wurden in 2022 wieder weniger Immunisierungen verordnet als zuvor. Im Fall der Pneumkokken-Impfungen kann das mit einem Vorzieheffekt erklärt werden, im Fall der jährlich zu erneuernden Influenza-Impfungen allerdings nicht.
Abbildung 2: In den Jahren 2018 und 2019 war eine moderate Zunahme von Pneumokokken- und Influenzaimpfungen in Deutschland zu beobachten, im ersten Pandemiejahr stiegen die Verordnungszahlen beider Impfungen um fast ein Drittel. Während die Zahl der Influenzaimpfungen im folgenden Jahr auf hohem Niveau stagnierte, ist für 2022 ein drastischer Rückgang zu beobachten. Bei den Pneumokokkenimpfungen stellte sich dieser Effekt bereits in 2021 ein und setzte sich 2022 sogar noch fort.
Nachholbedarf bei pädiatrischen Impfungen um gravierende Impflücken zu vermeiden
Noch bedenklicher im Sinne von Deutschlands Präventionszielen sind die Entwicklungen bei vielen weiteren Standardimpfungen des Impfkalenders, gerade auch bei solchen für Kinder. Die GKV-Verordnungszahlen der vergangenen Jahre zeigen hier nämlich einen stetigen Rückgang. Eine Erklärung dafür könnte die bereits erwähnte starke Fokussierung auf respiratorische Infektionserkrankungen bieten. Das RKI beobachtet allerdings seit einigen Jahren und somit bereits vor der Pandemie einen rückläufigen Trend bei vielen Impfungen im Kindesalter. Zusätzlich scheint zu spät geimpft zu werden und der Anteil abgeschlossener Impfserien im empfohlenen Alter ist nicht ausreichend hoch.
Impfziele
Schutzimpfungen verhindern nicht nur individuelle Erkrankungen, sie bieten darüber hinaus – bei breitflächiger Anwendung – indirekten Schutz, sogenannten Herdenschutz. Das bedeutet, dass auch indirekt Menschen geschützt sind, die selbst keinen Impfschutz aufbauen können. Abhängig von der Ansteckungsfähigkeit des Erregers sind unterschiedlich hohe Impfquoten notwendig, um dieses Ziel zu erreichen. Beim Masernvirus beispielsweise, das hochgradig ansteckend ist, gehen Experten davon aus, dass eine Herdenimmunität möglich ist, wenn mindestens 95% der Bevölkerung gegen die Masern geimpft bzw. immun sind. Da mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit einer Infektion steigt, empfiehlt die STIKO viele Impfserien möglichst früh abzuschließen, um einen umfassenden Herdenschutz zu gewährleisten.
Gelingt es über mehrere Jahre hinweg, einen hohen Immunitätsgrad in der Bevölkerung aufrecht zu erhalten, wird es sogar möglich, Erreger auszurotten. In Nord- und Südamerika beispielsweise konnten die Impfquoten lange genug auf einem ausreichend hohen Niveau gehalten werden, sodass die Masern dort mittlerweile als eliminiert gelten.
Dieser Rückgang bei den Schutzimpfungen macht sich auch in den verordneten Impfungen der vergangenen Jahre bemerkbar. Das verdeutlicht, wieviel in der Pandemie „liegen geblieben“ ist und nun unbedingt nachgeholt werden muss, damit keine gravierenden Impflücken entstehen,denn Impflücken stellen mehr als nur ein individuelles Risiko dar. Sie können in den kommenden Jahren in vermeidbaren Ansteckungen und erhöhten Erkrankungen vor allem vulnerabler Personen sowie höheren Therapiekosten für die Krankenkassen resultieren. Es ist daher im Interesse des deutschen Gesundheitswesens, dass sie schnellstmöglich geschlossen werden.
Abbildung 3: Bei den GKV-Verordnungen vieler Schutzimpfungen des Impfkalenders (wie beispielsweise der Mehrfachimpfung gegen Tetanus und weitere Erkrankungen) ist – anders als bei den Reiseimpfungen – keine Trendwende zu beobachten und Impflücken drohen. Die dargestellten Verordnungszahlen umfassen alle verfügbaren mono- und polyvalenten Impfstoffe gegen die angegebenen Erkrankungen.
Das Schließen von während der Pandemie entstandenen Impflücken und das Nachholen von Impfungen hat daher auch die Weltgesundheitsorganisation WHO zum diesjährigen Kernanliegen der „World Immunisation Week“ vom 24.04. bis 30.04. erhoben. Traditionell wird die jährlich Ende April ausgerufene Woche dafür genutzt, das Bewusstsein für Schutzimpfungen auf der ganzen Welt zu stärken. Daher wird auch in Europa im Rahmen der „European Immunisation Week“ auf den hohen Mehrwert von Schutzimpfungen hingewiesen werden.
Schon bald noch bessere Schutzmöglichkeiten
Über das bekannte Repertoire hinaus dürften bald noch weitere Schutzimpfungen angeboten werden. Denn die forschenden Pharmaunternehmen entwickeln stetig neue Impfstoffe gegen alte und neue Krankheitserreger. In 2022 untersuchte die Fachgruppe Vaccines Europe im Europäischen Pharmaverband EFPIA alle Impfstoffe in klinischer Entwicklung ihrer Mitgliedsfirmen und stellte fest, dass 46% gegen Krankheiten gerichtet sind, gegen die bislang keine Impfung existiert. Mehrere könnten in den nächsten zwei Jahren den deutschen Markt erreichen. Dazu zählt ein erster Reiseimpfstoff gegen Dengue-Fieber, und ein erster Impfstoff gegen das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) für Senior:innen. In fortgeschrittener Entwicklung sind auch RSV-Impfstoffe, die Neugeborene von geimpften Müttern schützen sollen sowie Kombinationsimpfstoffe gegen virale Atemwegsinfektionen (z.B. Grippe/Covid-19). Die Forscher:innen setzen dabei auf verschiedenste Impfstofftechnologien, immer abhängig von den individuellen Herausforderungen, die die Krankheitserreger bieten: auf inaktivierte oder abgeschwächte Viren, gekoppelte Antigene (Konjugate), virusähnliche Partikel, Vektorviren und mRNA.