Klinische Studien: Chancen, die ungenutzt verstreichen
Eine Reihe guter Gründe sprechen dafür, als Patientin oder Patient an einer Arzneimittelstudie teilzunehmen. Da ist es bedauerlich, wenn Teilnahmegelegenheiten in deutschen medizinischen Einrichtungen ungenutzt bleiben. Die im Healthcare-Bereich aktive Beratungsagentur Vintura hat nun im Auftrag des vfa einige Hintergründe genauer untersucht.
Schon die in aller Regel intensivere medizinische Betreuung und detailliertere Verlaufsbeurteilung im Vergleich zum Routinebetrieb sind wichtige Argumente dafür, als Patient und Patientin an einer Arzneimittelstudie mitzuwirken, wenn sich eine Möglichkeit dazu ergibt. Besonders aber für Betroffene, denen mit den bislang zugelassenen Therapien nicht überzeugend geholfen werden konnte, ist das von höchstem Interesse, haben sie doch gegebenenfalls nur durch die Studienteilnahme die Chance, doch noch eine wirksamere oder verträglichere Behandlung zu bekommen. Und Krankheiten, bei denen die heutige Medizin noch nicht gut, oder zumindest nicht allen gut helfen kann, gibt es viele: Die meisten Krebserkrankungen gehören dazu, aber beispielsweise auch chronische Herz-Kreislauf- oder Autoimmunkrankheiten sowie angeborene oder erworbene Stoffwechselkrankheiten und die große Zahl der seltenen Erkrankungen.
Man könnte deshalb annehmen, dass es um Teilnahmemöglichkeiten an Studien regelrecht „Gedränge“ gibt. Stattdessen ist aber oft von Unternehmen und Kliniken die Klage zu vernehmen, dass es nicht gelingt, für ihre klinische Studien genügend Teilnehmende zu finden.
Publizierte Ergebnisse der Untersuchung von Vintura
- Kuschel, A.-S., et al. Evaluating Patient Participation in Clinical Trials for CLL and SLE in Germany—A Mixed-Methods Study on Enrollment Potential Based on Claims Data. Healthcare 2024, Volume 12, Issue 21, 2127. https://doi.org/10.3390/healthcare12212127
- Report „Studiennutzen für Deutschland verstehen“ von Vintura (Präsentation)
Die Links führen zu den genannten Publikationen.
Was sind die Ursachen? Passen die Patientenprofile nicht mit den Ein- und Ausschlusskriterien zusammen? Oder finden Studien-Angebote und eigentlich interessierte Patient:innen nur einfach nicht zueinander? Und was entgeht dem deutschen Gesundheitswesen dadurch, dass Teilnahmemöglichkeiten ungenutzt bleiben? - Fragen wie diese hat die Agentur Vintura im Auftrag des vfa einmal an mehreren Krankheitsbeispielen untersucht, jeweils für den Zeitraum von 2017 bis 2022. Vintura wertete dazu vor allem Daten aus der InGef-Forschungsdatenbank des Berliner Instituts für angewandte Gesundheitsforschung Berlin (InGef) aus, in der anonymisierte medizinische Informationen von rund 4 Millionen Versicherten hinterlegt sind. Dazu kamen qualitative Analysen durch Interviews mit Expert:innen aus dem haus- und fachärztlichen Bereich.
Chronische lymphatische Leukämie
Bei Menschen, die an chronischer lymphatischer Leukämie (CLL) erkrankt sind, finden sich krankhaft vermehrt funktionslose Lymphozyten in Blut, Knochenmark und Lymphsystem, die sich aus B-Zellen entwickelt haben. Betroffene werden typischerweise mit einer Kombination von Chemotherapeutika und monoklonalen Antikörpern behandelt; manchmal auch zusätzlich mit einer Strahlentherapie.
2022, zu Ende des Untersuchungszeitraums, gab es laut Auswertung von Vintura in Deutschland ca. 102.000 Patientinnen und Patienten mit CLL, der in Deutschland häufigsten Blutkrebserkrankung. Deutsche medizinische Einrichtungen wirkten zwischen 2017 und 2022 an drei klinischen Studienprogrammen zur Erprobung neuer Therapien mit. Laut Abgleich mit den Ein- und Ausschlusskriterien kamen ca. 886 der hiesigen Betroffenen für eine Studienteilnahme in Betracht; und für sie waren 94 Teilnahmegelegenheiten (im Sinne von reservierten Plätzen) vorgesehen. Teilgenommen haben am Ende aber nur 86 Personen, was rund 91 Prozent des eigentlich für Deutschland vorgesehenen Beitrags an Studienteilnehmern entspricht.
Systemischer Lupus erythematodes
Systemischer Lupus erythematodes (SLE) ist eine Autoimmunkrankheit, die unterschiedliche Organsysteme befallen und im Schweregrad sehr unterschiedlich ausfallen kann. Sie ist mit zugelassenen Therapien nicht heilbar, kann aber mit entzündungsdämpfenden Medikamenten und mit einem immunmodulatorischen Antikörper behandelt werden.
Ende 2022 gab es nach Untersuchung von Vintura in Deutschland rund 47.000 SLE-Patientinnen und -Patienten. Neue Therapien für Erkrankte mit SLE wurden zwischen 2017 und 2022 hierzulande in zehn klinischen Studien erprobt. Laut Abgleich mit den Ein- und Ausschlusskriterien kamen ca. 8.300 der in Deutschland lebenden Betroffenen für eine Studienteilnahme in Betracht; und für sie waren 121 Teilnahmegelegenheit vorgesehen. Teilgenommen haben letztlich aber nur 21 Personen – was nur ein Sechstel des eigentlich Deutschland zugedachten Teilnehmer-Kontingents darstellt.
Warum werden so viele Teilnahme-Gelegenheiten ausgelassen?
Auf Basis von Interviews mit Ärztinnen und Ärzten hat Vintura eine Reihe von Handicaps identifiziert, die zur unvollständigen bzw. schlechten Rekrutierung beigetragen haben dürften. Demnach erhöht die Mitwirkung an klinischen Studien die ohnehin hohe Arbeitslast des Klinikpersonals, nicht zuletzt durch übermäßigen bürokratischen Aufwand. Auch für Patient:innen sei hoher Aufwand (z. B. mehrfache Aufenthalte am Studienzentrum) einer der Hauptgründe, eine Studienteilnahme abzulehnen. Insbesondere jüngere Patient:innen seien oft nicht gewillt, den zeitlichen Aufwand für eine Teilnahme zu investieren. Im Fall von werktätigen SLE-Patient:innen identifizierte Vintura beispielsweise als Handicap, dass diese nicht bereit waren, für die Teilnahme an einer stationären Studie Urlaubstage einzusetzen.
Auch seien die wenigen Studienkoordinator:innen, die den behandelnden Ärzt:innen logistische und andere Studien-bezogene Arbeiten abnehmen könnten, überbeansprucht und nicht angemessen bezahlt; es würden auch zu wenige ausgebildet. Hier zeigt sich einmal mehr der Fachkräftemangel im Gesundheitssystem.
Für ein effizientes Rekrutieren (wie das beispielsweise für Krebsstudien in den USA möglich ist) fehle es in Deutschland an einer anonymisierten Patientendatenbank, über die Patient:innen auf für sie passende Studien hingewiesen werden können, wenn sie es wünschen. Zudem fehlt in Deutschland ein Informationsangebot zu laufenden Studien in den Computersystemen von Arztpraxen/Kliniken, um Ärztinnen und Ärzten die Möglichkeit zu geben, direkt ihre Patientinnen und Patienten auf Teilnahmemöglichkeiten hinzuweisen.
Dabei haben die von Vintura befragten Ärztinnen und Ärzte klar artikuliert, dass es in mehrfacher Hinsicht vorteilhaft für sie wäre, an Studien mitzuwirken. Einer äußerte beispielsweise, dass er so gleich ein Gespür für die neuen Medikamente und das Wirkprofil bzw. Handling im Alltag bekomme. Er sammele wertvolle Erfahrung, und wenn eine neue Zulassung komme, könne er anderen niedergelassenen Kollegen Hilfestellung leisten. Andere verwiesen auf die Möglichkeit, durch Publikation von Studienergebnissen sowohl die eigene Reputation zu stärken wie auch die der Institution, an der man arbeitet.
Maßnahmen zur Verbesserung
„In Deutschland ist die Zahl laufender klinischer Arzneimittelstudien in den letzten Jahren gesunken. Da ist es umso bedauerlicher, dass nicht einmal die Studien, die stattfinden, eine volle Rekrutierung erreichen“, sagt Dr. Matthias Meergans, Geschäftsführer Forschung & Entwicklung des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa). „An Gründen dafür hat Vintura hat eine ganze Reihe herausgearbeitet. Daraus lassen sich mehrere konkrete Verbesserungsmaßnahmen ableiten.“
Vintura und der vfa sprechen dazu unter anderem folgende Empfehlungen aus:
- Arzneimittel-Studien sollten möglichst wenig Belastung für die Teilnehmenden mit sich bringen. Dazu sollten sie so weit als möglich ambulant durchgeführt werden.
- Es sollten mehr Studienkoordinator:innen ausgebildet und in Kliniken eingestellt werden; Vorbild für die Ausbildung kann die Schweiz sein.
- Die von allen Mediziner:innen genutzten Arztinformationssysteme müssten künftig automatisch darauf hinweisen, wenn für einen Patienten passende Studien laufen. Interessierte sollten auch selbst in einem laienverständlichen Register Studien finden können. Die Arzneimittelbehörden BfArM und PEI verfügen über alles, um ein solches Register aufzubauen.
- Es sollte eine zentrale Datenbank mit anonymisierten Patient:innen-Daten eingerichtet werden, über die Einladungen zur Studienteilnahme an geeignete Personen übermittelt werden könnten. Entsprechende Überlegungen gibt es auch im Bundesgesundheitsministerium.
„Weil der Nutzen klinischer Arzneimittelstudien für Patientinnen und Patienten, für medizinisches Personal und auch für das Gesundheitssystem deutlich erkennbar ist, täte Deutschland gut daran, solche Maßnahmen zügig anzugehen“, so Meergans abschließend.