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Entwicklung der Behandlungsfrequenzen in den letzten 20 Jahren

Die Debatte um innovative Arzneimittel ist oft einseitig auf Ausgaben und Preise ausgerichtet. Mit diesen Arzneimitteln ist aber auch bemerkenswerter medizinischer Fortschritt verbunden, wie längeres Überleben oder eine deutlich reduzierte Krankheitslast. Weitere Aspekte, wie beispielsweise die Veränderung der Behandlungsfrequenz, die durch die neuen Arzneimittel in den vergangenen 20 Jahren induziert wurde, haben einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten. Auch diese für die Versorgung relevanten Fortschritte sollten – insbesondere vor dem Hintergrund der Diskussionen zu Preisentwicklungen – nicht vernachlässigt werden.

Eine seniorige Patientin im Gespräch mit ihrer behandelnden Ärztin

Vermehrt wöchentliche bis monatliche Behandlungsfrequenz

Die Frequenz, in der ein Arzneimittel eingenommen werden muss, hat einen direkten Einfluss auf das Leben von Patientinnen und Patienten. Innerhalb der letzten 20 Jahre haben sich die Behandlungsfrequenzen deutlich verändert. Während von den zwischen 2001-2003 eingeführten Arzneimitteln noch mehr als zwei Drittel täglich eingenommen bzw. angewendet werden mussten, betraf dies weit weniger als die Hälfte der zwischen 2021-2023 eingeführten Arzneimittel (44,5 Prozent). Vielmehr haben sich die Behandlungsfrequenzen innerhalb von 20 Jahren mit einer vermehrt wöchentlichen bis zweimonatlichen Anwendung verringert. Der Anteil wöchentlicher bis zweimonatlicher Frequenzen ist 2021-2023 dreimal höher als noch im Zeitraum 2001-2003. Einmalig anzuwendende Therapien waren vor 20 Jahren eine sehr seltene Ausnahme, wohingegen sie 2021-2023 fast 14 Prozent der Neueinführungen ausmachten und damit mittlerweile eine feste Größe geworden sind.

Vor allem belastende Verabreichungswege haben niedrigere Behandlungsfrequenz

Ein Blick auf die Darreichungsformen der in beiden Zeiträumen eingeführten Arzneimittel zeigt einen gestiegenen Anteil der Infusionen, während sich der Anteil von Tabletten und Filmtabletten verringert hat. Dies ist ein Abbild der immer komplexeren Behandlungsoptionen. Die neueren Therapien bestehen zunehmend aus Proteinen oder ganzen Zellen– zwischen 2021 und 2023 wurden fast dreimal so viele Biopharmazeutika eingeführt wie zwischen 2001 und 2003. Die Größe dieser Wirkstoffe macht eine orale Formulierung häufig unmöglich. Zudem würden sie bei einer Passage durch den Magen verdaut, sodass sie fast ausschließlich als Injektion oder Infusion verabreicht werden müssen.

Insbesondere bei Infusionen zeigt sich jedoch der Trend weg von der täglichen Behandlungsfrequenz: Gut 80 Prozent der Infusionen, die von 2021-2023 eingeführt wurden, werden im Abstand von zwei oder mehr Wochen bis halbjährlich gegeben oder betreffen Einmaltherapien. Das ist ein weit größerer Anteil als bei allen anderen Darreichungsformen. Die einzigen Infusionen, die täglich verabreicht werden, betreffen drei Antibiotika gegen sehr schwere Infektionen. 2001-2003 waren noch 36 Prozent der neu eingeführten Arzneimittel, die per Infusion verabreicht werden, für eine tägliche Anwendung vorgesehen.

Eindrucksvoll ist die Entwicklung der Behandlungsfrequenz bei der Therapie einzelner Erkrankungen erkennbar. Im Folgenden sind beispielhaft die Verbesserungen für die Patientinnen und Patienten mit HIV/AIDS, Hämophilie, Schizophrenie und Diabetes dargestellt sowie die Entwicklung bei der Immunisierung gegen Erkrankungen, die durch das Respiratory-Syncytial-Virus (RSV) hervorgerufen werden.

HIV/AIDS – 40 Tabletten täglich sind Vergangenheit

Die Entwicklung der HIV-Medikamente ist eine Erfolgsgeschichte pharmazeutischer Forschung: Heute stehen gegen diese Infektion 35 Wirkstoffe in acht unterschiedlichen Wirkstoffklassen zur Verfügung. Mit dem HI-Virus infizierte Personen haben heute eine normale Lebenserwartung. Doch auch hinsichtlich der Entwicklung der Behandlungsfrequenzen ist die Therapie von HIV herausragend. Mitte der 1990er-Jahre standen die ersten hochwirksamen Kombinationstherapien zur Verfügung, die ein Ausbrechen von AIDS verhinderten. Dies bedeutete für die Patientinnen und Patienten jedoch die Einnahme von 40 Tabletten – und das täglich. Schon 10 Jahre später war eine Fixkombination der Wirkstoffe in einer Formulierung zugelassen, durch die nur noch die Einnahme einer einzigen Tablette pro Tag erforderlich war. Etwa zu diesem Zeitpunkt hatte sich die gefürchtete tödliche Erkrankung in eine chronische gewandelt. Weitere Forschung ermöglichte ab 2020 eine monatliche bzw. zwei-monatliche Behandlungsfrequenz. Seit 2022 ist eine Arzneimittelkombination möglich, bei der eins der Arzneimittel nur halbjährlich gegeben werden muss, sobald es in Deutschland eingeführt wird.

RSV-Prävention – aus bis zu 8 Injektionen bei Neugeborenen mach potenziell 0

Nach Beginn der Forschung in den 1960er-Jahren wurde 1999 der erste monoklonale Antikörper zur Prävention von durch das Respiratory-Syncytial-Virus (RSV) hervorgerufenen schweren Erkrankungen der unteren Atemwege für Säuglinge mit besonderem Risiko für schwere Erkrankungsverläufe zugelassen. Dieser musste den infrage kommenden Kindern in ihrer ersten RSV-Saison (jeweils von Oktober bis Mai) monatlich injiziert werden. 2022 konnte diese Frequenz mit der Zulassung eines weiteren monoklonalen Antikörpers, der zudem für alle Neugeborenen, unabhängig von möglichen Risikofaktoren, empfohlen wird, auf eine einzige Injektion kurz vor oder während der gesamten RSV-Saison reduziert werden. In Zukunft müssen Säuglinge gegebenenfalls nicht einmal mehr selbst eine Injektion erhalten, um geschützt zu sein: durch die Immunisierung der werdenden Mutter können sie deren Antikörper und damit einen indirekten Impfschutz erhalten. Ein entsprechender Impfstoff ist seit 2023 zugelassen, weitere sind in Entwicklung und der optimale Einsatz wird bereits in Studien und Modellierungen analysiert.

Hämophilie – jahrelang wirksame Prophylaxe

Hämophilien sind Störungen der Blutgerinnung. Am bekanntesten sind die Hämophilien, die auf einen Mangel an Blutgerinnungsfaktor VIII (Hämophilie A) oder Blutgerinnungsfaktor IX (Hämophilie B) zurückzuführen sind. Beide Krankheiten betreffen nahezu ausschließlich Jungen und Männer. Bei ihnen stoppen innere wie äußere Blutungen nur schwer von selbst. Die Folge sind lebensbedrohliche Blutungen und schwere Gelenkschäden aufgrund von Einblutungen. Die Behandlung der Hämophilie hat sich in den vergangenen 100 Jahren stetig weiterentwickelt. Nach einer ausschließlichen Bedarfsbehandlung, also bei einer akuten Blutung, hat sich seit etwa Mitte der 1970er-Jahre die prophylaktische Behandlung durchgesetzt. Seither spielen hier auch Behandlungsfrequenzen eine Rolle.

Bis Anfang der 1990er-Jahre wurden für die Prophylaxe ausschließlich Faktorpräparate aus Spenderblut verwendet. Sie mussten alle 2 bis 3 Tage gegeben werden. Ab 1993 standen für beide Hämophilie-Formen die ersten rekombinanten Faktorpräparate zur Verfügung, die in der Prophylaxe anfangs so häufig verabreicht wurden wie die Präparate aus Spenderblut.

Weiterentwicklungen ermöglichten ab 2015 bei der Hämophilie A (Faktor VIII-Mangel) eine Prophylaxefrequenz von 3 bis 5 Tagen. Seit 2018 gibt es erste Präparate, die nur noch einmal wöchentlich angewendet werden müssen. Zu dieser Zeit hatte sich die Lebenserwartung der Betroffenen beider Hämophilie-Formen nahezu an die des Bevölkerungsdurchschnitts angenähert. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Patienten mit Hämophilie A entwickelt im Lauf der Behandlung Hemmkörper, also eine Autoimmunreaktion, gegen die Faktorpräparate, was die Behandlungsoptionen stark einschränkt. Seit 2018 steht für diese Patienten eine erste Behandlungsoption zur Verfügung, die anfangs wöchentlich angewendet wurde; seit 2019 ist eine Anwendung nur noch alle 4 Wochen notwendig.

Zuletzt ist 2022 die erste Gentherapie für Hämophilie A zugelassen worden. Die mittels des in die Leber verbrachten Faktor VIII-Gens erzeugten Level des Gerinnungsfaktors nehmen im Laufe der Zeit wieder ab. Derzeit ist eine dreijährige Wirkdauer belegt.

Die Halbwertszeit ist eine Größe, die angibt, wie lange es dauert, einen Stoff um die Hälfte abzubauen. Bei Faktor IX-Präparaten gegen Hämophilie B gelang es, die Halbwertszeit des rekombinanten Faktors sogar auf das Drei- bis Fünffache des natürlichen Faktors IX zu verlängern, sodass seit 2016 eine zweiwöchentliche Anwendung möglich ist.

Für die seit 2023 verfügbare Gentherapie gegen Hämophilie B sind mittlerweile für Patienten, die an den klinischen Studien teilgenommen haben, zehn Jahre Wirkdauer belegt.

Schizophrenie – Quartalsinjektion zugelassen

Patientinnen und Patienten mit Schizophrenie müssen oft über lange Zeit Medikamente nehmen, um Rückfälle zu vermeiden. Nach Zulassung der ersten Antipsychotika Ende der 1950er-Jahre ist eine Reihe von weiteren Medikamenten mit verschiedenen Wirkmechanismen zugelassen worden, die eine gut auf die Patientinnen und Patienten zugeschnittene Behandlung ermöglichen. Allerdings ist ein fehlendes Krankheitsgefühl bei Schizophreniepatientinnen und -patienten häufig die Ursache für eine mangelnde Therapietreue. Bis 2007 standen ausschließlich Schizophreniemedikamente mit einem täglich Einnahmeintervall zur Verfügung. Im Jahr 2008 stand die erste Depot-Formulierung eines Antipsychotikums 2. Generation zur Verfügung, die alle 4 Wochen verabreicht werden muss. Seit 2016 steht ein Medikament zur Verfügung, mit dem nur einmal pro Quartal eine Depot-Injektion erforderlich ist. Seit 2020 ist ein Arzneimittel zugelassen, mit dem die Injektion nur noch halbjährlich erfolgt, sobald dieses Arzneimittel in Deutschland eingeführt wird.

Basalinsuline bei Diabetes – von zweimal täglich zu wöchentlich

Alle Patienten und Patientinnen mit Diabetes Typ 1 und einige mit Diabetes Typ 2 leiden an einem Mangel an Insulin. Dann ist die regelmäßige Verabreichung von Insulin nötig, denn andernfalls drohen Organschäden aufgrund überhöhter Blutzuckerwerte. Dabei wird jeweils ein Basal-Insulin, das nahrungsunabhängig den Grundbedarf des Körpers an Insulin deckt, mit weiteren Medikamenten kombiniert, etwa mit oralen Antidiabetika oder mit kurz wirksamen Insulinen vor den Mahlzeiten. Als Basalinsulin eignen sich Insulinpräparate, die möglichst lange wirksam bleiben – denn andernfalls müssten die Patientinnen und Patienten ständig Insulin nachspritzen.

Frühe Basalinsuline enthielten tierisches oder Humaninsulin, dessen Wirkdauer zum Beispiel durch den Zusatz von Protamin so verlängert wurde, dass es nur zweimal pro Tag angewendet werden musste. Seit 2000 stehen auch langwirksame Insulinanaloga zur Verfügung, die sogar nur einmal am Tag injiziert werden müssen. Dieses Behandlungsintervall blieb lange unverändert, bis vor Kurzem ein erstes Insulinanalogon eingeführt wurde, das nur noch einmal wöchentlich angewendet wird. Weitere sind in klinischer Erprobung.