Individuell gegen den Tumor - Innovative Therapien gegen Brustkrebs
Wege der Medizin
Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts drohte ein Konflikt besonderer Art zu eskalieren: „Stoppt das Fällen der Pazifischen Eiben“, verlangten Naturschützer in den USA. Sie fürchteten, diese Eibenart würde ausgerottet, und sahen sich im Recht, ihre Existenz zu verteidigen. Doch die Holzfäller und ihre Auftraggeber fühlten sich ebenso moralisch gerechtfertigt, die Bäume zu fällen. Denn sie sollten nicht für Papier oder Luxusgüter dienen, sondern um Krebspatienten das Leben zu retten. In ihnen fand sich nämlich ein Stoff, auf dem große Hoffnungen ruhten: Paclitaxel.
Pharmaforscher haben einen Weg gefunden, Paclitaxel zu gewinnen, ohne dass Bäume fallen müssen: Sie vermehren Eibenzellen im Labor.Paclitaxel war die wichtigste – und auch nahezu die einzige – Entdeckung eines großen Programms zum Aufspüren neuer Krebsmedikamente in der Natur. Es wurde vom US-amerikanischen National Cancer Institute (NCI) zwischen 1960 und 1981 durchgeführt. 114.000 Extrakte aus rund 15.000 Pflanzenarten wurden in dieser Zeit untersucht. Bereits 1962 sammelten Mitarbeiter des Programms im Nordwesten der USA Rinde und Nadeln der pazifischen Eibe (Taxus brevifolia) ein. Aus den Rindenproben wurden später Extrakte gewonnen, die im Reagenzglas und bei Mäusen das Tumorwachstum verlangsamten. Die dafür verantwortliche Substanz wurde 1966 identifiziert und zuerst Taxol, später dann Paclitaxel genannt. Zunächst wurde ihre Erforschung in akademischen Labors fortgeführt, danach übernahm ein Pharmaunternehmen die weitere Entwicklung der Substanz zu einem Medikament. Bis Paclitaxel im Rahmen einer kleinen Studie bei Patienten erprobt wurde, sollten 17 Jahre vergehen, denn die Substanz bereitete den Wissenschaftlern enorme Probleme. So ließen sich aus der Rinde einer ausgewachsenen pazifischen Eibe gerade einmal 350 Milligramm davon gewinnen. In anderen Teilen des Baumes fand sich die Substanz ebenso wenig wie in mehreren anderen daraufhin untersuchten Eibenarten. Die Behandlung eines einzigen Krebspatienten war damit unweigerlich an das Fällen und Aufarbeiten von rund sechs ausgewachsenen Bäumen einer eher seltenen und unter Naturschutz stehenden Art gebunden: ein hoher Preis.
Die Eibenzellen stellen dann den Wirkstoff her.Trotzdem sah es zunächst so aus, als käme die Entdeckung des Paclitaxels der Erhaltung der pazifischen Eibe sogar entgegen. Denn zuvor war sie in der Waldwirtschaft als nutzloses „Unkraut“ angesehen worden. Kurz nach der Entdeckung von Paclitaxel hofften Umweltschutz-Institutionen wie der Environmental Defense Fund, dass die gewachsene Wertschätzung die Eiben schützen würde. Eiben wachsen jedoch äußerst langsam und erreichen erst nach 100 Jahren ihre volle Größe. Als Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre klinische Studien die hohe Wirksamkeit von Paclitaxel gegen Brust- und Eierstockkrebs belegten, zeichnete sich deshalb schnell ab, dass der Bedarf alles übersteigen würde, was eine nachhaltige Eiben-Waldwirtschaft liefern konnte. Das machte die Naturschutz-Initiativen nervös. Eine alternative Herstellungsmethode musste dringend gefunden werden. Aufgrund der überaus komplizierten Struktur des Naturstoffs schien eine chemische Herstellung zunächst nicht durchführbar. Aber zwischen 1994 und 1996 konnten drei Forschergruppen zeigen, dass es doch möglich ist, wenn auch nur mit enormen Kosten. Eine Lösung für die Massenproduktion brachte deshalb erst ein weiteres Herstellungsverfahren, das Wissenschaftler vom Institute de Chimie des Substances Naturelles im französischen Gif-sur-Yvette entwarfen: Sie fanden heraus, dass eine einfacher gebaute Substanz aus den Nadeln der gewöhnlichen europäischen Eibe (Taxus bacchata), genannt 10-DAB, in mehreren chemischen Schritten zu Paclitaxel umgewandelt werden kann. Und Kollegen von ihnen im gleichen Institut erfanden das Docetaxel, eine dem Paclitaxel ähnliche Substanz, die sich ebenfalls aus 10-DAB herstellen lässt. Auch mit dieser Substanz wurde dann von einem Pharmaunternehmen ein Krebsmedikament entwickelt. Mit der Umwandlung von 10-DAB war der Engpass für die Krebstherapie überwunden, denn Tausende europäischer Eibenhecken in öffentlichen Parkanlagen, die ohnehin regelmäßig geschnitten werden müssen, stellen eine schier unerschöpfliche Quelle dar. Im Jahre 1993, nur wenige Monate nach der ersten US-amerikanischen Zulassung und noch vor der deutschen Zulassung im Dezember, lief für Paclitaxel die halbsynthetische Produktion an. Docetaxel, das 1995 die erste Zulassung für Deutschland erhielt, wurde von vornherein auf der Basis von Eibenschnitt produziert. Mittlerweile kann Paclitaxel sogar noch effizienter hergestellt werden: Es ist gelungen, von Eibenzellen Kulturen anzulegen, aus denen sich Paclitaxel direkt gewinnen lässt. 2002 wurde die internationale Produktion von Paclitaxel auf dieses Verfahren umgestellt, das ein Unternehmen in Deutschland durchführt. Seit Paclitaxel und Docetaxel – zusammen mit dem 2011 zugelassenen Cabazitaxel als Taxane bezeichnet – in unbegrenzten Mengen zur Verfügung stehen, konnte ihr Potenzial umfassend untersucht werden. Sie erwiesen sich – meist in Kombination mit weiteren Medikamenten – bei Brustkrebs in frühen wie in fortgeschrittenen Stadien als wichtige Bereicherung des therapeutischen Sortiments. Vielen Patientinnen haben sie mittlerweile das Leben gerettet oder zumindest verlängert. Auch für die Behandlung mehrerer anderer Krebsarten haben sie sich bewährt. Glücklicherweise musste nicht jeder Fortschritt in der Brustkrebstherapie einen so dramatischen Anfang nehmen.
Nur die pazifische Eibe enthält den kompliziert gebauten Wirkstoff Paclitaxel.
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